«Auf diese Glocke musst du immer Acht geben», sagte Vevi, «wenn du zu spät zum Essen kommst, lässt die Armenmutter nicht mit sich spassen, sie ist streng.»
Johann konnte sich nicht vorstellen, dass man nicht sofort zum Essen ging, er hatte immer Hunger. In der grossen Stube wurde ihm nun doch ein wenig ängstlich zu Mute. An langen Tischen sassen viele ältere und jüngere Kinder. Alle blickten ihm entgegen und musterten ihn. Einige schauten freundlich, andere zogen Grimassen, und zwei kleine Mädchen schienen durch ihn hindurchzublicken. Diese beiden und die Augen der alten Männer und verschrumpelten Frauen, die ihn hinter den Tischen hervor beobachteten, machten ihm ein wenig Angst. Er fasste Vevi bei der Hand und schob sich hinter sie. Der Armenvater erhob sich von seinem Platz am separaten Tisch am Fenster. Er trat auf ihn zu, fasste Johann leicht beim Arm und sagte laut, dass es alle hörten: «Das ist der Johann. Er ist vier Jahre alt, und er wird jetzt bei uns wohnen. Jetzt haben wir schon drei Apostel, wird immer besser bei uns. Johann schläft bei den kleinen Buben, und er hilft mit im Garten. Die Vevi wird ihm alles Nötige zeigen.» Ruhig führte er ihn an den Tisch, an dem die kleinen Buben sassen und wies ihm den Platz neben Ernstli zu.
Alle Buben und Mädchen hatten ein Stück Brot vor sich. In der Mitte der Tische standen irdene Schüsseln mit Apfelmus. Daraus schöpfte sich jedes einen grossen Löffel voll und klatschte ihn auf das Brot. Die Männer hatten Käse zum Brot, die alten Frauen assen das Brot ebenfalls mit Apfelmus. In Krügen stand für die Alten Most und für die Kinder Milch bereit. Die Grossen schenkten den kleinen Kindern ihre Becher voll. Einer der grösseren Buben leierte ein Tischgebet herunter, nachher war es ruhig; nur Kaugeräusche und Schmatzen waren zu hören. Von der Ecke der alten Männer ertönten auch Rülpser und grobe Fürze. Die grossen Buben lachten, die Mädchen kicherten.
Der Armenvater riss ein Fenster auf und meinte gutmütig: «He, Störi, plagen dich die Saubohnen von heute Mittag?»
Johann wunderte sich, dass er ein zweites Musbrot bekam, das hatte er zu Hause nie erlebt. Niemand sprach mit ihm, die kleinen Buben musterten ihn neugierig, die grösseren feixten, aber alle liessen ihn in Ruhe. So sagte er auch nichts.
Bald erhoben sich die Alten und schlurften aus dem Raum. Die Kinder schwangen ihre Beine ebenfalls über die Bänke und verschwanden. Vevi und zwei der grossen Mädchen sammelten die Schüsseln ein und putzten die Tische. Sie wischten den Boden und warfen die Krümel zum Fenster hinaus, wo Johann Hühner gackern hörte.
«Komm», sagte Vevi, «wir müssen das Geschirr in die Küche bringen und nachher gehen wir in den Garten.»
Zusammen mit den anderen kleinen Buben und den beiden stumpfsinnigen Mädchen klaubte Johann bis zum Abendessen Steine aus den Beeten und trug sie in einem Drahtkorb an den Rand des Gartens. Seppi zeigte ihm einen schönen Käfer; der kleine Ueli legte ihm einen dicken Regenwurm auf den Kopf. Röbi lachte, als er den Wurm aus den Haaren nahm und auf dessen Kopf legte, und Albert schaute stumm zu. Er verzog keine Miene.
Johann merkte, dass Albert nicht sprechen konnte und überhaupt etwas sonderbar war. Auch bei den grösseren Kindern, die ebenfalls im Garten arbeiteten, bemerkte er einige, die ihm seltsam vorkamen. Beim Eindunkeln läutete wieder das scherbelige Glöcklein, und alle bewegten sich gemächlich auf das Haus zu. Am Brunnen im Hof wuschen sie sich die Hände und tauchten die schmutzigen Füsse ins Wasser. Die drei grossen Buben kamen aus der Scheune und wuschen sich. Mit nassen Füssen patschten alle in die grosse Stube und setzten sich an die Tische. Die alten Frauen sassen schon da, die alten Männer schlurften nach den Kindern langsam und schwerfällig herein und liessen sich ächzend nieder.
Diesmal betete der Armenvater selber. Das Unser Vater kannte Johann, aber er konnte es noch nicht beten. Die zwei anderen Gebete, die folgten, hatte er noch nie gehört.
Grosse Schüsseln mit geschwellten Kartoffeln standen bereit. Jedes der Kinder nahm sich davon auf einen eigenen hölzernen Teller, dazu etwas Salz mit Kümmel und dicke Milch. Die Grossen tranken wieder Most, die Kinder erhielten Buttermilch.
Unterdessen war es im Raum dunkel geworden und der Armenvater zündete drei Petroleumlampen an. Sie hingen über den Tischen und verbreiteten ein heimeliges Licht. Der schwere Geruch des Petrols überdeckte beinahe den Altleutegeruch, der dumpf im Raum hing. Einige der alten Frauen nahmen Strickzeug aus einem Korb, die Männer holten ihre Tabakpfeifen hervor und pafften. Die grossen Buben zogen Hefte aus dem Schrank, um ihre Hausaufgaben zu erledigen. Vevi und die anderen grossen Mädchen räumten wieder die Tische ab und fuhren mit dem Lappen darüber. Auch sie setzten sich nachher an ihre Hefte, während die jüngeren Kinder mit Astkühlein und kleinen Stoffpuppen auf dem Boden spielten.
Johann fielen fast die Augen zu. Er war froh, als das Glöcklein schepperte und der Armenvater und die Armenmutter wieder hereinkamen. Sie sprachen das Nachtgebet und wünschten allen eine gute Nacht.
Die Mädchen verschwanden in den Abtritt hinten im langen Gang, die Buben erleichterten sich draussen neben dem Stall. Die Grossen lachten die Kleinen aus und zeigten ihnen, wie man einen grossen Strahl erzielen konnte; das kannte Johann von seinen Halbbrüdern. Zusammen mit Ernstli und den andern verzog er sich in die Kammer. Jemand hatte ein eigenes Kissen für ihn auf den Strohsack gelegt. Kaum hatte er die Hose ausgezogen und sich im Hemd auf den Strohsack gelegt, schlief er tief und traumlos. Die anderen tuschelten eine Weile über den Neuen, er hörte nichts mehr.
Durch die gleichförmigen Tage und Monate gewöhnte sich der kleine Johann bald an sein neues Leben, er fühlte sich wohl. Zwar schien ihm das stete Arbeiten streng und das frühere Herumstromern in den Wirtshäusern vermisste er. Aber zusammen mit Ernstli und den andern Buben aus seiner Kammer war es meistens lustig, und alle wurden gleich behandelt.
Der Ignaz aus der grossen Bubenkammer hatte ihn einmal wegen seiner Mutter gehänselt und sie eine billige Schnepfe genannt. Zwar hatte er den Ausdruck nicht verstanden. Aber am rohen Lachen der anderen hatte er gespürt, dass es eine Gemeinheit war. Auch wenn seine Mutter ihn noch nie besucht hatte, beleidigen liess er sie trotzdem nicht. So hatte er Ignaz ohne lange Überlegung kräftig ins Schienbein getreten. Das war nach dem Gallustag gewesen, als sie schon Schuhe trugen. Seither liessen ihn die Grossen in Ruhe.
Er vermisste sein altes Zuhause kaum. Im Armenhaus war alles ähnlich wie bei seiner Mutter, auch das einfache Essen. Nur dass er hier immer so viel zu essen bekam, wie sein Bauch es wünschte. Seit dem Gallustag trug er am Sonntag voll Stolz seine neuen Socken. Sie kratzten und waren ihm viel zu gross, aber das machte ihm nichts aus. Der Strohsack war neu gefüllt, und er hatte jetzt auch zwei eigene Wolldecken. Der Armenvater war gerecht und behandelte alle gleich. Von der strengen Armenmutter setzte es hin und wieder eine Kopfnuss. Das berührte ihn nicht weiter, er hatte sie meistens verdient. Die Mutter hatte härter zugeschlagen.
Zu Weihnachten erhielten alle Buben einen Lebkuchen und ein neues Hemd. Die Mädchen erhielten ihre Lebkuchen in eine neue Schürze eingewickelt. Die Frau des Pfarrers hatte zusammen mit anderen Frauen zwei Körbe mit diesen Geschenken gebracht. In der grossen Stube stand ein Christbaum. Etwas so Zauberhaftes hatte Johann noch nie gesehen. Er wäre am liebsten den ganzen Tag in der Stube geblieben, nur um den Baum zu bestaunen. Überhaupt waren die Weihnachtstage wunderbar. Seine Mutter hatte ihm eine Mütze gestrickt. Josi, sein älterer Halbbruder, hatte sie gebracht. Mutter habe keine Zeit ihn zu besuchen, hatte er gesagt und war rasch wieder gegangen. Das tat Johann weh, aber was sollte er tun? Er hätte seine Mutter gern wieder einmal gesehen, obwohl er sie kaum vermisste.
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