Alma blickte ihn verständnislos an: Was interessierte sie Bengasi? «Pah, auswandern! Ich müsste die Stadt nicht verlassen, wenn meine Eltern keine Auswanderer wären», erwiderte sie ungehalten.
«Oh», er blickte sie aus seinen dunklen Augen an. Lange. Nachdenklich. «Sie wären nicht hier, wenn Ihre Eltern nicht ausgewandert wären!»
«Was nützt das, wenn ich trotzdem gehen muss?» Alma liess den Kopf hängen. «In drei Tagen brechen wir auf.»
Antonios Lächeln verschwand. «Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder!», gab er leise zurück.
Sie nickte, blieb stehen.
«Sie kommen ja bald zurück! Oder?» Seine Stimme tönte eindringlich.
«Ja, sicher!» Sie blickte in seine Augen und versuchte zu lächeln. Sie konnte ihre Tränen nicht verbergen. Sie schämte sich, das Lächeln geriet zur Grimasse. Sie schaute weg, strich mit der Hand über seinen Arm, nahm seine Finger, liess sie wieder los und kehrte um. Es war wieder da, das entsetzliche Reissen in ihrer Brust.
Am Tag darauf holten die Männer von Fratelli Gondrand Möbel und Hausrat, Kisten und Koffer zum Transport in die Schweiz ab. Folco musste sich von der Hälfte seiner Spielsachen trennen und Alma Antonios Buch den fremden Händen mitgeben. Zurück blieben weitgehend leere Räume.
XXIX
Das letzte Mal. Alma stand in der leergeräumten, blank gescheuerten Wohnung. Nazzarena schnäuzte sich die Nase, und es hallte. Mutter kontrollierte jedes Zimmer.
Bei zia Ludovica assen sie zu Abend. Die Tante redete pausenlos. Sie ermahnte den Bruder, das Wässerlein der Heilerin, die sie wegen ihm aufgesucht hatte, regelmässig einzunehmen, und erklärte ihrer Schwägerin, wen sie in der Heimat grüssen und an wessen Grab sie gelbe Chrysanthemen niederlegen solle. Anna nickte, Cristoforo sass zusammengesunken auf seinem Stuhl und hörte schweigend zu. Die Kleinen waren unruhig. Alma hatte keinen Hunger.
«Sempre bene nun se pò sta, sempre male nemmeno», trompetete zia Ludovica unbekümmert und zündete sich eine Zigarette an – «auch deine Beschwerden werden vorübergehen, Cristoforo!» Sie blies den Rauch über den Tisch aus.
Angewidert drehte Alma den Kopf weg. Sie war erleichtert, als es endlich vorwärtsging und der Transportkarren mit ihrem Reisegepäck beladen wurde. Die Pferde reckten ungeduldig die Köpfe, das Pferdegeschirr klirrte. Der Himmel färbte sich goldrot, hier und da lösten sich ein paar gelbliche Blätter von den Platanen am Strassenrand und schaukelten sachte zu Boden.
Cristoforo setzte sich mit Folco in die Kutsche. Sein Blick war finster, grübelnd, die Stirn in Falten gezogen. Was taten sie da? Hatte es einen Sinn, alles zurückzulassen, was er aufgebaut hatte? Seit Edgardo weggegangen war, hatte er sich für alles und alle verantwortlich gefühlt. Zu viel? Viel zu viel? Zwecklos, jetzt darüber zu sinnieren. Er hatte erfolgreich gewirtschaftet und dabei seine Gesundheit zerstört. Das war bitter. Sehr bitter. Er schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und strich sich mit der Hand übers Gesicht. Zum Abschied waren alle gekommen, Landsleute, Mitstreiter über lange Jahre, Begleiter von damals. Das half. Langsam tauchte Cristoforo aus seiner Gedankenwelt auf.
Um ihn herum herrschte herzzerreissende Aufregung. Ihm wurde die Hand geschüttelt und auf die Schultern geklopft. Nachbarn, liebe und mühsame, treue Kunden, Monsignori in Schwarz und Mönche in Kutten, der pizzicarolo und der Milchmann von weiter unten, der magenkranke Pippo, der die Filiale an der Via Machiavelli führte, Alberto, der Gastgeber, und Giulio, der Jude. Zia Ludovica und Tiziano, die Kellner und Bäcker, sor Augusto und die Eierverkäuferin, Dottor Venditti und die beiden älteren Damen vom Haushaltgeschäft gegenüber. Und auch le monache – die Nonnen – und die Eltern von Rachele und anderer Schulkameraden der Kinder. An diesem Tag waren alle, die gekommen waren, ans Herz gewachsene Freunde, zurückbleibende Gefährten auf einem wichtigen Stück Lebensweg. Cristoforo seufzte. Er wollte gehen, endlich. Tun, was zu tun war. Das Unausweichliche.
Auch Alma schüttelte Hände und nahm Glückwünsche und Gottes Segen entgegen. Sie umarmte Rachele, Marianna, Rosa und Angela. Tränen flossen. Dann stieg sie mit geröteten Augen in die Kutsche und nahm einen der Körbe mit der Reiseverpflegung auf die Knie. Romeo setzte sich neben den Vater, Tränen rannen über sein Gesicht. Vater legte seinen Arm um ihn. Auch Mutter stieg auf. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Sie setzten sich in Bewegung. Vorbei am monte , wo der Jasmin dunkelrote Früchte trug, am Palazzo Brancaccio, am Kleidergeschäft gegenüber Santa Maria Maggiore.
Alma sog den Duft der caldarroste ein, der noch in der Luft lag. Sie winkte den Menschen vor der Bar zu, die kleiner und kleiner wurden. Bis sie abbogen und niemand mehr zu sehen war. Sie fühlte sich verloren, ihr Mund war ausgetrocknet, ihr Magen flau. Ihre anderen Geschwister sassen mit Nazzarena und Clemente auf dem Karren, der ihnen folgte, zwischen Koffern und Reisebündeln, mit baumelnden Beinen.
Die Kutsche ratterte in der Abenddämmerung über die Piazza dei Cinquecento, vorbei am kleinen Obelisken, dem Denkmal von Dogali, der an die in Abessinien getöteten italienischen Soldaten erinnerte. Auf der Piazza wurden die Strassenlaternen angezündet. Das Licht war gedämpft, die Konturen der Palazzi weich. Auf der anderen Seite des Bahnhofsgebäudes, bei den partenze, wo die Züge abfuhren, hielten sie. Der Kutscher half Cristoforo aussteigen. Dieser klaubte ein paar Münzen aus der Hosentasche und drückte sie dem Kutscher und den herbeieilenden Gepäckträgern in die Hand. Mit deren Hilfe trugen sie die sechs grossen Koffer durch die russgeschwärzte Abfahrtshalle zum Bahnsteig.
Auch die Kinder bekamen ein Stoffbündel in die Hand gedrückt, das sie tapfer mit sich schleppten. Mutter war es bereits auf dem Weg zum Bahnhof übel geworden. Mit der einen Hand presste sie ein Taschentuch auf den Mund, mit der anderen nahm sie Giacomos Hand. Alma packte Pietro und Folco am Arm, Irene und Attilio trugen die Verpflegungskörbe. Romeo half Clemente beim Koffertragen.
In der beleuchteten Bahnhofshalle kam sich Alma vor wie in einem Wespennest. Reisende eilten nervös zum Bahnsteig, Gepäckträger schrien sich den Weg frei, fliegende Händler boten Getränke und Reiseverpflegung an, Bahnbeamte und Schutzleute – le guardie – zirkulierten mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und vertrieben die Bettler. Die bereitstehenden Züge quietschten, dampften und heulten.
Koffer und Reisekörbe türmten sich schwankend vor dem Gepäckwagen ihres Zuges, einem direttissimo mit Schlafwagen. Träger und Fahrgäste warteten drängelnd davor.
Alma stand mit Clemente, Nazzarena und zwei Trägern mittendrin und schaute ungeduldig zu. Endlich wurde die Schiebetür geöffnet, ein Ruck ging durch die Menge, und Alma wurde rücksichtslos hin- und hergeschoben. Mutter war mit den Kindern vorausgegangen, sie suchte den Zweitklasswagen, in dem ihre reservierten Plätze waren.
«Wo ist Vater?», entfuhr es Alma. Bestürzt schaute sie sich um. Der Bahnsteig war voller Leute. Sie reckte den Hals in alle Richtungen. Cristoforo war nirgends zu sehen. «Habt ihr Vater gesehen?», schrie sie Mutter zu, die kreidebleich den Kopf schüttelte.
Alma raffte den Rock und rannte los. Jenseits des Absperrgitters entdeckte sie ihn, wie er ging, mitten in der Bahnhofshalle, so ruhig, als ginge es nicht darum, selbst wegzufahren, sondern nur seine Kinder auf die Reise nach Gavignano zu schicken. Er hielt eine brennende Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dem Rauch, den er ausstiess, schaute er mit abwesendem Blick nach.
Alma war erleichtert. «Babbo, da bist du ja! Ma chefai – Was machst du? Dottor Venditti hat dir das Rauchen doch verboten!»
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