Clemente schleppte einen Kanister Olivenöl herbei, stellte ihn ab und verschnaufte. Mutter bediente, Tiziano sass an der Kasse.
Alma schaute zur Kundin, die sich an die Ladentheke drängte. Sie schien ihr Meilen entfernt. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte mit höflicher Miene, was sie wünsche.
Auf einmal entdeckte Alma Angela, die an der Tür stand und wild gestikulierte. Ihre schräg stehenden, dunklen Augen blickten unternehmungslustig, die schwarzen Haarlocken schaukelten in alle Richtungen. Almas Gesichtszüge hellten sich auf.
«Alma, komm schon!», rief sie aufgeregt.
«Ich kann jetzt nicht», bedeutete ihr Alma.
«Ich bin mit dem Fahrrad da!»
«Mit der bicicletta von signorina Balducci?» Alma schmunzelte.
Die signorina Balducci war eine gepflegte ältere Dame, die allein an der Via di Olmata, einer kurzen Gasse gegenüber von Santa Maria Maggiore, wohnte, im gleichen Wohnblock wie Angela. Man erzählte sich, dass sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen und täglich auf dem Fahrrad mit wehenden Röcken und unter dem Kinn fest gebundenem Hut zur Arbeit auf der Zentralpost an der Piazza San Silvestro gefahren sei. Seit sie nicht mehr arbeitstätig war, hatte man sie manchmal mit Freundinnen in die Campagna ausfahren sehen. Aber eines Tages war sie gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Seither hinkte sie mit dem Gehstock durch die Strasse, und das Zweirad stand unbenutzt im schmutzigen Innenhof des Wohnhauses. Es war, als habe der Unfall auch ihre Seele geknickt, denn sie war alt und müde geworden. Angela bewunderte die einst so temperamentvolle Frau und hatte sich anerboten, für sie die Besorgungen in der Stadt zu machen. Dafür hatte signorina Balducci ihr erlaubt, das Fahrrad zu benutzen. Nun stand es vor dem forno an die Wand gelehnt. Grasgrün, mit tiefem Einstieg und sandfarbenem Schriftzug.
«Dai, komm schon. Setz dich auch wieder einmal drauf!»
Es war nicht das erste Mal, dass Angela mit dem Fahrrad von signorina Balducci aufkreuzte, um auch Alma fahren zu lassen.
«Heute nicht!»
«Alma, du solltest öfter üben! Sei nicht immer so übertrieben vorsichtig!» Angela stemmte ihre Fäuste in die Hüfte.
«Schau, der Laden ist voll, heute geht es wirklich nicht! Aber hör mal, tust du mir einen Gefallen?» Alma hatte einen Geistesblitz. «Kommst du morgen nochmals? Etwas vor siebzehn Uhr? Bitte!», bat sie eindringlich.
Angela sah die Röte in Almas Gesicht und packte sie an den Schultern. «Ja klar, wenn du mir sagst, wer der Auserwählte ist?»
«Das erzähle ich dir morgen. Ciao, ich muss jetzt! Komm und hol dein Brot!»
Aufgeregt kehrte Alma hinter die Ladentheke zurück, wickelte ein kleines Weissbrot in Angelas Einkaufsbündel und schob die Freundin hastig zur Kasse. Diese bezahlte achtunddreissig centesimi und blickte augenzwinkernd zur Freundin zurück.
Alma sah die sportliche Gestalt mit den wilden schwarzen Locken, die sich selbstbewusst auf das grasgrüne Fahrrad setzte und davonpedalte. Alma schaute weder nach links noch nach rechts, um sich nichts anmerken zu lassen, tat einen tiefen Atemzug und spürte, wie ihr Blut schnell pulsierte. Sie war zugleich glücklich und verwirrt.
In dieser Nacht konnte sie fast nicht schlafen.
XX
Am nächsten Tag schlich Alma um die Theke herum, an der Kasse vorbei und zum Ausgang, als sie Angela auftauchen sah. Es war nachmittags kurz vor fünf Uhr. Angela hielt ihr das Fahrrad hin.
«Halt mich fest, halt mich fest, ich weiss nicht, ob ich das noch kann.» Alma stieg auf, hielt die Beine von sich gestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und blickte geradeaus. Das Rad rollte langsam auf der leicht abschüssigen Strasse.
«Geht doch! Jetzt musst du mir aber erzählen, was los ist!» Angela ging in grossen Schritten neben ihr her. «Sonst wäre ich nicht gekommen!»
Alma schaute sie aus ihren graubraunen Augen an, ihre Hände hielten krampfhaft den Lenker. Angela war schon so oft von zu Hause abgehauen, hatte jede Regel gebrochen, die ihr nicht passte, und hatte dann zur Strafe tagelang das Haus nicht verlassen dürfen. Trotzdem war sie für jede Art Abenteuer zu haben, je ungehöriger desto besser.
Alma erzählte ihr von Antonio und vom Zettel, den sor Augusto ihr gegeben hatte. Am Ende der Via Mecenate stieg Alma ab, packte Angelas Arm und hielt ihr das grüne Fahrrad hin. «Bitte, kannst du hier auf mich warten? Wenn Vater das erfährt, gibt’s ein Donnerwetter!»
«Macché, lass den doch wettern!»
«Dann sterb ich! Bitte!», flehte Alma.
«Gut, ich mache ein paar Runden und komme dann hierher zurück. Und grüss mir deinen Angebeteten!»
«Danke! Danke! Danke!»
«Schon gut!»
Alma strich ihren Rock glatt und ordnete das Haar. Plötzlich fragte sie sich, was sie tat. In einem Monat würde sie Rom verlassen, das tat schon weh genug, was traf sie sich da noch mit Antonio?
«Alma, geh jetzt!»
Antonio stand an eine Ruine gelehnt, neben ihm ein altes schwarzes Herrenfahrrad. Er schob seinen Strohhut zurecht und winkte Alma schon von Weitem zu.
Alma sah nur noch seine leuchtenden Augen, und auf einmal sprudelte es aus ihr heraus, dass sie gar nicht hier sein dürfte, dass sie ja bald abreisen würde, dass es gar keinen Sinn machte. Dann brach sie in Tränen aus, und sie kam sich dämlich vor.
Antonio strich ihr über die Wange, nahm ihre Hand. «Das weiss ich ja schon!»
«Ah ja?» Alma strich sich die Tränen aus den Augen und versuchte ein Lächeln.
«Das haben Sie erzählt.»
Alma runzelte ungläubig die Stirn.
«Deshalb habe ich Sie gebeten zu kommen. Denn die Vorlesungen haben wieder begonnen, und ich wurde umgeteilt für den Zeitungsverkauf.»
Alma stand da wie gelähmt und verzweifelt.
«Ich werde nicht mehr die Via Merulana bedienen!» Antonio schaute ernst, zog sie näher zu sich und legte den Arm um ihre Schultern.
Sie erschrak, liess dann aber den Kopf an seine Schulter sinken. Da war es wieder, dieses Gefühl der Leichtigkeit. Als würde sie auf Wolken schweben.
«Was ist das?» Etwas Hartes in seiner Jacke drückte gegen ihre Brust. Sie löste sich von ihm.
«Ich hab etwas für Sie!» Aus der Innentasche seines erdbraunen Jacketts zog er ein meerblaues, in glänzendes Leinen eingefasstes Buch. «Schauen Sie, eine Frau, die schreibt!» Er hielt es ihr hin.
Grazia Deledda. Alma liebte die Fortsetzungsromane dieser Schriftstellerin, die im Giornale d’Italia abgedruckt wurden. Sie fühlte, wie sie errötete.
«Ehm, zum Abschied.» Antonio räusperte sich.
Alma nahm es mit gesenktem Blick entgegen, fühlte den Stoff des Einbandes, las den Titel: «Nostalgie». Wieder schossen Tränen in ihre Augen, sie versuchte angestrengt, sie zurückzuhalten.
«Sie ist eine berühmte sardische Dichterin, lebt aber in Rom!»
Alma nickte, drückte das Buch an ihre Brust und brachte vor Rührung kein Wort hervor.
Antonio nahm wieder ihre Hand, drückte einen Kuss auf ihren Handrücken und liess sie lange nicht los. «Sehen wir uns vor Ihrer Abreise?» Er schaute in ihre geröteten Augen und strich nochmals über ihre Wange.
«Ja!»
«Ich lasse Sie wissen, wann ich kommen kann!»
Alma nickte wieder, dann hielt sie das Buch an die Nase, roch den herben Geruch des Leinens, vermischt mit dem Duft von Papier und Druckerschwärze. Sie blickte Antonio an. «Ja, bitte! Sie wissen, wo ich bin.»
Dann schlug sie das Buch auf, blätterte zum Beginn des ersten Teils und las laut: «Sie näherten sich Rom. Der Novembermond, ein grosser perlmuttfarbener Mond, klar und melancholisch, beleuchtete die Campagna: Der wütende Wind traf heftig auf die Wucht des fahrenden Schnellzugs.»
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