Alma hatte die Lippen zusammengepresst, der Vater schwieg. Die Pferdehufe hämmerten auf dem Kopfsteinpflaster. Kutschen fuhren in alle Richtungen, die Kutscher schrien einander zu und gestikulierten, um aneinander vorbeizukommen. Tramways und Omnibusse ratterten geradeaus. Die meisten Fussgänger blieben auf den Gehsteigen. Elegante Palazzi, prunkvolle Treppenaufgänge und imposante Säulenfassaden zogen an Alma und Cristoforo vorbei. Über den Läden waren die Sonnenstoren ausgefahren, breitkronige, leise raschelnde Platanen säumten die breite Strasse.
Die Kutsche hielt, Alma half ihrem Vater auszusteigen. In der hohen Eingangshalle mit den marmornen Böden und Säulen fragten sie nach dem richtigen Stockwerk. Dann stiegen sie die breite Marmortreppe hinauf, der samtene rote Teppich dämpfte die Schritte. In Wandnischen waren Büsten aufgestellt, steinerne Augen starrten ihnen entgegen. Dort, wo auf dem Messingschild der Name des Notars prangte, zogen sie an der Türglocke.
Cristoforo rang nach Atem. Alma hielt seinen Arm fest und strich mit der anderen Hand ihr Kleid glatt. Sie schwiegen immer noch.
Eine Sekretärin öffnete die Tür und führte sie freundlich lächelnd durch einen langen Flur in einen grossen, mit dunklem Eichentäfer ausgekleideten Raum. Sie setzten sich auf die gepolsterten Fauteuils an der Wand. Stimmen waren zu hören, Schritte auf dem Steinboden, das Klappern einer Schreibmaschine.
Almas Blick wanderte zur Kassettendecke über ihr. Endlich kehrte die Sekretärin zurück und führte sie in einen anderen Raum, hiess sie an einem massiven Eichenholztisch Platz nehmen. Wieder warten. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden. Im Hintergrund stand ein Sekretär, übervoll mit Büchern und Papieren, Füllfedern und Tintenfass. Dahinter, unter einem monumentalen Renaissancegemälde, waren auf einer Konsole Stempel und Stempelkissen säuberlich aufgereiht in allen Grössen und Ausführungen, daneben Siegel, Wachs und Zündhölzer.
Cristoforo nahm den Hut ab und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Der Notar, endlich! Ein behäbiger, untersetzter Mann trat ein, und sie erhoben sich ehrfürchtig.
«Ihre Papiere!», brummte dieser mürrisch.
Cristoforo erschrak und nestelte in der Innentasche seiner Jacke, zog endlich seinen Pass hervor und legte ihn mit zitternder Hand auf den Tisch.
«So, Sie wollen zurück aufs Land und hier Ihr Hab und Gut verkaufen!», meinte der Notar kopfschüttelnd und setzte sich.
Alma fühlte einen Stich in ihrer Brust.
«Das geht aber nicht so schnell mein lieber sor … wie heissen Sie?» Er langte nach dem Pass.
Cristoforo rutschte an die Stuhlkante, Alma tat es ihm nach. «Nicht?»
«Nein, nein. Zuerst benötige ich die Unterlagen aus dem Registeramt und dem Ministerium, die Bewilligungen des Meldeamts, die Zustimmung der Bank, das dauert alles.»
«Naja», stotterte Cristoforo.
Der Notar verliess den Raum. Sie warteten betreten. Er kam zurück mit der Sekretärin und liess diese nach seinem Diktat Cristoforos Namen notieren, die Adressen von Tiziano und Clemente, die Nummern der zu verkaufenden Liegenschaften, ihre Adresse in der Schweiz, den Namen des Bankinstituts. Dann studierte er lange Cristoforos Pass, blätterte darin und gab ihn wortlos zurück.
Cristoforo zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiss von der Stirn.
Die Sekretärin legte das Blatt mit den Angaben vor ihn hin und deutete auf die Stelle, wo er unterschreiben sollte. Die Feder kratzte auf dem Papier. Der Notar drückte einen Stempel darauf und schmolz hingebungsvoll das Siegelwachs.
Wie in Trance klaubte Cristoforo die Geldnoten für die Anzahlung aus der Jackentasche, stand auf und setzte seinen Hut auf.
Der Notar schüttelte ihnen eifrig die Hand, er werde alles daran setzen, dass der Verkauf rechtzeitig erfolge. Die Sekretärin, immer noch lächelnd, begleitete sie zur Tür.
Auf dem Weg nach Hause sprachen sie kein Wort.
Cristoforo empfand Leere. Weggegeben. Alles losgelasssen. Den forno, die Bar, die Filiale, die Wohnung. Er war ohne Sicherheiten. In einem schwarzen Loch zwischen zwei Welten. Eine, in der alles dahinging, die andere, in der nichts war als eine blasse, ferne Kindheitserinnerung.
Alma half Vater in die Wohnung hinauf, wo er sich entkräftet und mürrisch auf das Sofa legte und einschlief. Niemand wagte, etwas zu fragen.
Alma verliess unbemerkt die Wohnung, marschierte ziellos die Via Merulana hinauf und fand sich schliesslich, immer noch im Sonntagskleid, auf dem grünen Wiesenstreifen neben der Kirche San Martino ai Monti wieder. Aufgewühlt setzte sie sich auf eine Bank unter einem ausladenden Oleander, dessen Blüten noch blutrot leuchteten. Sie starrte in die grünen Bäume vor ihr, Tränen rannen über ihre Wangen. Bis sie ruhiger wurde. Bis sie sich eingestand, dass sie den Lauf der Dinge nicht aufhalten konnte.
Sie seufzte, strich sich die Tränen aus den Augen und betrat die Kirche, das kühle Dunkel jenseits der geöffneten Kirchentür. Sie tauchte die Fingerspitzen in das Weihwasserbecken, bekreuzigte sich und setzte sich in eine Kirchenbank. Sie sah die Grimassen des Notars und die Zähne der Sekretärin, die Hinterteile der Kutschenpferde und Vaters Hilflosigkeit, die sie manchmal beschämte. Sie spürte die Wut auf die Krankheit, ihre Ohnmacht. Aber was änderte ihre Auflehnung? Nichts. Was sollte sie anderes tun, als mitgehen und akzeptieren, was sich anfühlte wie ein Abgrund? Eine Wahl hatte sie nicht. Sie kniete nieder, betete zur Muttergottes. Betete. Und irgendwann merkte sie: Wirklich wichtig war nur, dass Vater am Leben blieb. Sie selbst würde im Puschlav schon irgendwie zurechtkommen. Sie würde auch ein Leben haben. Ein anderes eben. Und zudem war es ja immer noch das Ziel, wieder zurückzukehren. Antonio würde bestimmt so lange auf sie warten. Oder nicht? Innerlich übergab sie ihr Schicksal in die Hände Gottes. Er würde es bestimmt zum Guten wenden.
Das Weihwasser beim Ausgang fühlte sich weich und samten an. Gestärkt trat Alma aus dem dunklen Raum und zog die schwere Kirchentür hinter sich zu. Sie hielt dem Windstoss, der ihr Haar zerzauste, das Gesicht entgegen und lächelte. Leichtfüssig kehrte sie nach Hause zurück, grüsste sor Augusto freundlich, nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und trat durch die mittlere Eingangstür in die Küche, von wo ihr der Duft von grilliertem Gemüse in die Nase stieg. Sie merkte, wie hungrig sie war.
XXIV
Fratelli Gondrand stand auf dem zerknitterten Zettel, den Cristoforo von Clemente bekommen hatte. Cristoforo steckte ihn in die Hosentasche. Das Speditionsunternehmen befand sich an der Via della Mercede gegenüber der Zentralpost. Alma stellte sich vor, wie die signorina Balducci früher mit wehenden Röcken geradelt kam. Im Gebäude herrschte Hochbetrieb. Geschäftsleute, Fuhrmänner und Gepäckträger kamen und gingen. Angestellte hetzten in die Büros und zurück, schimpften und fluchten. Schreibmaschinen klapperten. Sie warteten lange. Einige Kunden reklamierten lautstark. Cristoforo sass zusammengesunken auf einem Stuhl, bis sie endlich zum Schalter gerufen wurden. Man schimpfte mit ihnen, weil sie viel zu spät dran waren. Deshalb bezahlten sie mehr als üblich, damit ihre Möbel und ihr Hausrat rechtzeitig abgeholt und in die Schweiz transportiert wurden. Sie erledigten die nötigen Formalitäten und verliessen die stickige Eingangshalle so schnell wie möglich.
«Wenn das nur klappt mit unseren Sachen!», meinte Cristoforo besorgt.
Alma hustete angewidert. Sie überquerten die verkehrsreiche Piazza San Silvestro.
«Babbo, hier, die Strassenbahn!» Alma deutete auf die bereitstehende Tramway, die sie geradewegs nach Hause führen würde.
«Komm!», sagte er, ging mit gesenktem Kopf daran vorbei und überquerte langsam, aber unbeirrt die Via del Tritone.
Читать дальше