1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Sie reckten die Köpfe hin zur Via Cavour, um die principessa zu sehen. Die Kandidatin aus ihrem Quartier, die an der Wahl zur reginetta di Roma teilgenommen hatte. Zum ersten Mal überhaupt hatte man eine Miss Rom erkoren. Am aufwändigen dreitägigen Wahlprozedere hatte aus jedem Quartier eine junge Frau teilnehmen dürfen. Der Festtagstross kam direkt von der Piazza d’Armi jenseits des Tiber, wo die Wahl und die Feierlichkeiten im Rahmen der Universalausstellung stattgefunden hatten.
Diese Ausstellung zum fünfzigjährigen Bestehen des italienischen Nationalstaats hatte Alma zusammen mit der ganzen Familie an einem warmen Frühlingssonntag besucht. Vom monumentalen dreibogigen Ehrenportal am Eingang aus hatten sie sich zu den prunkvollen padiglioni aufgemacht. Alma sah die venezianischen Gondeln vor sich, wie sie auf den nachgebauten Wasserkanälen schaukelten, und die Segelschiffe aus der Hafenstadt Genua, die die glorreiche Seefahrerzeit veranschaulichten. Sie hatten die trulli , die höhlenartigen Behausungen mit den kegelförmigen Dächern der apulischen Bauern bestaunt, die roten Nelken an den Bauernhäusern des Aostatals und die Schneeschuhe, von denen sie noch nie zuvor gehört hatte. Geworben hatte man mit dem spektakulären, naturgetreuen Nachbau eines hundert Meter langen römischen Schiffes, das in einem künstlich angelegten Wasserbecken schwamm. Aber am meisten fasziniert hatte sie alle der toboggan im Vergnügungsteil der Ausstellung. Der Eintritt in diesen Bereich war zwar unerschwinglich gewesen für die Familie, doch selbst das Zuschauen von der Umzäunung aus hatte Spass gemacht, fast so, als wären sie selbst dabei gewesen, wenn die Mutigen hoch oben auf dem Holzturm sich in den Kahn setzten und über die steile Rutschbahn in das Wasserbecken hinunterschossen. Das Wasser war in die Höhe gespritzt, und nicht nur die Teilnehmenden, auch alle Zuschauer rundherum, hatten laut gekreischt. Den Kleinen hatten sie ein Eis und den Besuch eines Figurentheaters versprechen müssen, um sie, nach mehrstündigem Aufenthalt auf dem Gelände, von dort wieder loszubekommen.
Auch an der Via Cavour war die Stimmung ausgelassen. Trommler und Trompeter zogen vorbei, Knappen in historischen Kostümen, Fahnenträger und Pferdekutschen mit den Amts- und Würdenträgern und ihren Begleitdamen. Dann endlich fuhr der himmelblau ausstaffierte Wagen vor, in dem die Auserwählte auf einem erhöhten Sitz sass, mit der Zweit- und Drittplatzierten an ihrer Seite. Aufrecht und stolz blickten die jungen Frauen in die Menge, lächelten selbstbewusst und winkten. Alle drei trugen kostbare Kleider aus glänzendem Seidensatin und hatten die Haare kunstvoll hochgesteckt. Mit einem schmucken Fächer, passend zum Farbton des Kleides, wedelten sie sich Luft zu.
Alma bewunderte den Mut der Frauen, sich so zu präsentieren. Sie selbst konnte sich nicht vorstellen, dort oben zu stehen. All diese Blicke, die einen durchbohrten, nein!
Marianna war begeistert von den eleganten Kleidern.
Rachele fand die principessa hochnäsig und ihre Nase zu lang. «Und schau, die hat Pausbacken wie ein kleines Mädchen», meinte sie.
«Genau wie du!» Marianna drehte den Kopf zu ihr und grinste.
«Macché! Ich habe keine Pausbacken!» Rachele runzelte die Stirn, und eine Furche bildete sich an ihrer Nasenwurzel.
«Und sie hat einen langen, zarten Hals!»
«Du meinst, sie ist eine Giraffe?», entgegnete Rachele spöttisch.
«Du Esel! »
«Hört doch auf! Mir gefällt sie auch», kam Alma Marianna zu Hilfe.
«Sie ist immerhin gross!» Das war Racheles Retourkutsche an die Adresse der klein gewachsenen Marianna, die ihr postwendend den Ellbogen in die Seite stiess. Rachele und Alma brachen in helles Lachen aus.
«Wenn das genügt, hätte ja auch Angela mitmachen können», meinte Marianna trocken, und die anderen lachten nochmals laut heraus.
«Unsere sportliche ciociara mit ihren feministischen Prinzipien! Schade, wollte sie nicht mitkommen!», meinte Rachele.
Alma bewunderte Angela, ihre ehemalige Mitschülerin, die sich seit dem Umzug ihrer Eltern in die Stadt standhaft und erfolgreich geweigert hatte, den Sommer bei den Verwandten auf dem Land zu verbringen. Nie wieder Magd sein, hatte sie verkündet. Zur selbstsüchtigen Grossmutter, die sie nur ausnützte, nein! Und nie wieder ihrem bornierten Onkel die Schuhe auf Hochglanz polieren!
Als die Glocken des campanile halb acht Uhr schlugen, verabschiedete sich Alma eilig von ihren Freundinnen. Sie hätte schon längst zu Hause sein müssen, um Nazzarena beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Wenn Vater ihre Verspätung bemerkte, würde es ein Donnerwetter absetzen. Alma rannte, so schnell sie konnte.
XVII
«Al sgarbis, al sgarbis!», schrie Tiziano ihr von der Kasse her zu. Doch bevor sie begriff, hatte der Mann das Brot von der Theke genommen, eine Flasche Wein gepackt und war weg gewesen. Tiziano schimpfte mit ihr, weil sie einem notorischen Dieb auf den Leim gegangen war. Sie hätte es wissen müssen, doch sie war in Gedanken versunken gewesen.
«Ich hab dich doch gewarnt!»
«Was hast du mir gesagt?» Erschrocken blickte Alma Tiziano an. Sie verstand den Jargon der Bäckersleute nicht, dieses furchtbare Kauderwelsch aus alten Puschlaver Dialektbrocken und römischer Mundart!
«Diamine!»
Clemente kam ihr zu Hilfe. «Komm, ist schon gut. Pass das nächste Mal besser auf.»
Alma nickte kleinlaut.
«Al sgarbis heisst ‹er klaut›. Und frost heisst ‹Brot› und schirel ‹Wein›!», erklärte er ihr aufmunternd.
«Ohimè!», entfuhr es ihr erleichtert. «Ich muss jetzt.» Sie packte das Brotbündel und verliess den Laden, um vor dem Frühstück noch die Zeitungen zu besorgen.
Antonio bemerkte Almas Aufregung. Sie erzählte ihm von ihrem Missgeschick, und sie lachten. Und er erzählte ihr von der Universität, an der er Italienisch und Geschichte studierte, und davon, dass er sich mit dem Zeitungsverkauf und einigen Privatlektionen Leben und Studium finanziere. Ihm gefiel ihr Quartier, weil viele Strassen nach berühmten italienischen Künstlern benannt waren. «Ihr habt eine Piazza Dante, die Via Petrarca und den Viale Manzoni, die Via Leonardo da Vinci, Buonarroti, Galilei und Machiavelli! Kennst du sie?», fragte er begeistert.
«Ja, in der Schule habe ich I promessi sposi von Manzoni gelesen, gefällt dir die Geschichte?», antwortete Alma interessiert.
Jeden Morgen hoffte sie sehnlichst, dass Antonio die Via Merulana mit den Zeitungen bediente. Jeden Tag hatte sie neue Fragen bereit, und es gelang ihr von Mal zu Mal besser, ihre grosse Schüchternheit zu überwinden.
«Erzähl mir von Foscolo, Leopardi und Ferruccio! Mich nimmt wunder, wer Tasso, Alfieri und Botta waren. Kannst du in deinen Büchern nachlesen, was sie geschrieben haben?»
Und beim nächsten Mal berichtete ihr Antonio, was er herausgefunden hatte. Dazwischen kommentierte er die Schlagzeilen, ereiferte sich über Giolitti, den zu geduldigen Ministerpräsidenten, die Streiks der Fabrikarbeiter im Norden des Landes und die Rückständigkeit des Mezzogiorno. Er beschrieb ihr die Entwicklung in den italienischen Kolonien Ostafrikas und den Konflikt mit dem Osmanischen Reich, der Anfang Oktober mit dem Beschuss der Stadt Tripolis begonnen hatte.
Während Antonio sprach, gab er mit flinken Fingern Zeitung um Zeitung heraus und steckte die Fünfer ein.
Alma stand daneben und hörte fasziniert zu. Nach einer Weile eilte sie dann die Via Merulana hinauf mit dem Brotbündel in der einen Hand, die Zeitungen unter den Arm geklemmt, mit der anderen Hand die Haarsträhnen richtend. Sie fühlte die Röte im Gesicht, und den ganzen Tag über trug sie Antonios dunklen, leuchtenden Blick mit sich. Jede Begegnung mit ihm wurde zum Lichtblick des Tages, die sie mindestens für Momente die schreckliche Krankheit des Vaters und die drohende Rückkehr ins Puschlav vergessen liess.
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