«Immer dieses Puschlav!», ereiferte sich Rachele. «Immer träumen die Erwachsenen vom Zurückkehren. Wie kann man nur?» Sie drückte Almas Arm: «Ich will nicht, dass du weggehst!»
«Ich will ja nicht weg!» Almas Beine fühlten sich an wie Blei.
«Die begreifen einfach nicht, dass unser Leben hier ist. Wir wollen doch niemals weg, schon gar nicht zurückkehren!»
«Pah, zurück!» Alma nahm die Händler unter den Arkaden mit ihrer billigen Ware und die Dienstmädchen mit den vollen Körben und Einkaufsbündeln nicht wahr.
«Aber erzähl doch, was los ist!» Als sie die Strasse überquerten, hielt Rachele die Freundin am Arm zurück, bis die Pferdekutschen und die quietschende Tramway vorbeigefahren waren. Dann drängten sie sich an den Marktständen vorbei, hielten sich bei den Fleisch- und Fischständen die Nase zu und betraten, ohne die herumlungernden Bettler zu beachten, durch das schmiedeeiserne Eingangstor die ausgedehnte Parkanlage.
Alma begann zu erzählen. Vom schlechten Gesundheitszustand des Vaters und der Prognose des Arztes, nur die Berge könnten ihm Heilung bringen. Sie seien kaum aus Gavignano zurück gewesen, als er sich über den geringsten Lärm aufgeregt habe. Er habe mit den Kleinen geschimpft wie noch nie, sei dagesessen mit finsterem Blick und habe kaum etwas gegessen. «Dabei ist er nur noch Haut und Knochen. Das ist nicht Babbo, verstehst du?»
Rachele war bestürzt. «Ja, nein, aber … Cristoforo war doch immer so … !» Rachele suchte nach Worten. «So lieb!»
Alma richtete sich auf, und mit Wut in der Stimme meinte sie: «Er hat immer zu viel gearbeitet. Das hatte ihm schon zio Edgardo gesagt!»
«Hmm.»
«Aber er wollte nicht hören!», fügte Alma in bitterem Ton hinzu.
«Und das einzige Mittel, das helfen soll, ist die Heimkehr? Das kann ich nicht glauben! Die Medizin ist doch heute so fortgeschritten!» Rachele schüttelte den Kopf.
«Eben! In drei Monaten werde er tot sein, wenn er nicht sofort zurückkehrt! Was kann ich denn dagegen tun?»
Die beiden Freundinnen schwiegen. Auf dem von Blumenbeeten gesäumten Spazierweg, der sich zwischen den Rasenflächen dahinschlängelte, waren sie zu den Ruinen des monumentalen Wasserkastells gelangt. Zu dessen Füssen war ein Teich angelegt, und Palmen ragten in die Höhe. Sie setzten sich weitab vom hektischen Markttreiben auf eine freie Sitzbank unter einer ausladenden Libanonzeder, die sie vor der stechenden Sonne schützte.
Alma blickte ins Leere, sah plötzlich die Lichtbahnen, die von der Kuppel ins Innere des Petersdoms einfielen. Der goldene Glanz erfüllte sie mit Kraft. Alma fühlte sich in jenes Gefüge von Säulen, Statuen und Inschriften versetzt. Sie sah, wie Vater sie am Ärmel zupfte und sie, Romeo und Attilio zur Marmorskulptur hinführte. Zur jungen Madonna mit dem toten Jesus auf dem Schoss. Andächtig hatte Vater dort zwei Kerzen angezündet. «Beten wir für Alfredino und für Amelia, sie sind im Paradies», hatte er zu ihnen gesagt, das grosse frisch gebügelte Taschentuch aus seiner Hosentasche gezupft und leise die Nase geschnäuzt. Dann hatte er sie an der Hand genommen, und sie hatten den Petersdom verlassen. War das Trost genug, um den Schmerz der Seele auszuhalten? Eine Kerze, ein Gebet?
Rom,
Markt an der Piazza Vittorio Emanuele II, 1913.
«Ich will einfach nicht weg von Rom!»
«Gibt es wirklich keinen anderen Weg?», fragte Rachele.
Alma erzählte, Vater habe bereits zio Edgardo geschrieben und ihn gebeten, für die Familie im Puschlav eine Bleibe zu finden. Mitte November sollten sie abreisen. Allerspätestens. Vater werde das Geschäft Clemente und Tiziano verkaufen, denn die seien nicht bereit, ihn nur für die Zeit seiner Abwesenheit zu vertreten.
«Aber dann kommt ihr ja wieder!», rief Rachele überrascht. «Wenn ihr nur für die Zeit bis zu seiner Genesung wegbleibt?»
«Weisst du, wie lange das dauern kann, wenn es Vater so schlecht geht? Eine halbe Ewigkeit!»
«Nein, Alma, überleg doch, als wie heilsam die Berge gepriesen werden! Aria genuina! Alle schwärmen von der reinen Luft und der Stille der Natur. Vielleicht ist da doch etwas daran?» Rachele sprach eindringlich auf Alma ein. «Ihr werdet in wenigen Monaten wieder in Rom sein», sagte sie voller Hoffnung.
«Ach, na ja, ich weiss nicht!»
«Doch, doch! Ihr werdet zurückkehren. Bald!»
«Vielleicht hast du Recht.»
«Und wenn ihr wieder da seid, zünden wir im Petersdom hundert Kerzen an, und ich komme mit auf die Kuppel! Abgemacht?»
«Abgemacht!» Alma lächelte. Sie fühlte sich besser.
Die Freundinnen erhoben sich. Alma hakte sich bei Rachele ein und fragte, was sie während der Sommerwochen gemacht habe. Während sie plauderten und sich einig waren, dass sie sich so bald wie möglich wieder treffen und auch Marianna besuchen würden, spazierten sie an grün glänzenden Magnolienbäumen vorbei, schritten über die am Boden verstreuten und zertretenen Gemüse- und Fischabfälle hinweg und verliessen die Piazza.
XII
Schlusspunkt! Ich habe gerade die allererste Fassung dieses Buches beendet, als mich eine Tante auf die Kommode hinweist. Sie steht seit Jahren in einem ungenutzten Zimmer im Haus im Puschlav. Ich durchsuche die Schubladen mit den Schriften, die Attilio stapelweise hinterlassen hat, und stosse auf ein Manuskript: Autobiografia d’infanzia. Neugierig hebe ich den hellbraunen Heftdeckel. Die dünnen gelblichen Blätter sind dicht mit Maschine beschrieben und von Hand korrigiert. Ich überfliege den Text. Es sind über dreissig Seiten Kindheitserinnerungen. Ich kann mein Glück kaum fassen! Ich setze mich auf einen Stuhl, beginne zu lesen und finde mich mit Attilio mitten in einer Schar Kindergartenkinder in Rom wieder. Sie sitzen verkehrt herum auf ihren kleinen Stühlen, alle hintereinander, und spielen Zug und Lokomotive.
Attilio erwähnt, wie abweisend der Palazzo Brancaccio im oberen Teil der Via Merulana auf sie gewirkt habe, wie geheimnisvoll dagegen der riesige Park auf dessen Rückseite. Doch die Aufschüttung aus Lehmerde entlang der Via Mecenate, direkt gegenüber demforno, habe den Zugang zu diesem grünen Reich verwehrt. Sie sei wie ein Wall gewesen mit einem flachen Schuppen obenauf. Monte hätten sie das Ganze gennant – Berg. Ihr soziales Leben habe sich strassabwärts abgespielt.
Attilio erzählt auch von der Piazza Vittorio Emanuele II, die damals noch an der Peripherie Roms lag und von ihnen einfach die Piazza genannt wurde. Sie war der Dreh- und Angelpunkt des neuen Wohnquartiers, das nach der Einigung Italiens erbaut worden war. Einwanderer aus den ländlichen Gebieten Italiens und Emigranten aus verschiedensten europäischen Ländern hatten hier eine neue Heimat gefunden, darunter auch eine ansehnliche Puschlaver Kolonie.
Rom,
Piazza Vittorio Emanuele II, Trofei di Mario, ca. 1890.
Diese Schrift ist ein Juwel! Gerührt und voller Freude nehme ich das Heft an mich, studiere und transkribiere es. Die Beschreibungen bestätigen vieles von dem, was ich in stundenlangen Nachforschungen bereits herausgefunden habe. Und viel mehr noch: Sie öffnen mir tatsächlich das Zeitfenster, das ich mir so gewünscht habe. Sie schenken mir einen konkreten Einblick in den bunten Alltag der Via Merulana, in ein Stück römisches Leben. So beschrieben, wie es nur einer kann, der es selbst erlebt hat. Und so füge ich meiner Geschichte zahlreiche neue Puzzleteile hinzu wie leuchtende Farbtupfer auf ein etwas blass geratenes Bild.
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