Wieder Nazzarenas Stimme. Alma tat einen tiefen Seufzer, stand auf, nahm den Putzlappen und brachte ihn Nazzarena. Dann machte sie sich ans Abwaschen. Sie goss das verbliebene Wasser, das im Kessel auf dem Holzherd dampfte, in das Waschbecken. Irene, Nazzarena und ihre Schwester halfen mit, die Küche aufzuräumen. Folco fütterte die Katzen. Später schaute Alma zu, wie die Buben und Nazzarenas Brüder die störrischen Ziegen, die sie vom Feld ins Dorf geholt hatten, die enge, steil abfallende Gasse zwischen ihrem und dem Nachbarshaus hinuntertrieben. Zusammen mit den beiden Eseln wurden sie in den Stall gebracht, der sich ein Stockwerk unter dem Wohnzimmer befand. Nazzarenas Familie lebte kärglich von den Tieren, etwas Getreide- und Gemüseanbau und dem Lohn ihrer Brüder, die in Weinbergen und Olivenhainen arbeiteten. Die Schwestern, die nicht in die Stadt gezogen waren, verrichteten Ammendienste, solange sie konnten, und verarbeiteten, Abend für Abend, Stroh, Seide und Wolle. Nazzarenas Mutter schloss die Gehege der Hühner und Gänse. Darüber breiteten sich die Äste des Wacholderstrauchs aus, der sich gegen den dunkelblau leuchtenden Himmel abhob wie ein klappriges, dorniges Gerippe.
Auf den umliegenden Hügeln hockten wie Kappen andere kleine Dörfer. Der Klang der Kirchenglocken breitete sich über die Campagna aus. Der Ruf zum Angelus Domini.
Bevor sie ins Bett geschickt wurden, durften die Kinder im Wohnzimmer noch etwas spielen. Alma und Romeo sassen am Tisch und setzten das abgewetzte Puzzle mit den Pferden zusammen. Am Hauseingang waren die Silhouetten von Nazzarenas Vater und Brüder erkennbar. Sie rauchten Pfeife, ihre Hände waren wie Pranken.
Alma sehnte sich nach Rom. Sie vermisste ihre Freundinnen und war froh, dass der September angebrochen war. Es war höchste Zeit zurückzukehren.
Romeo suchte eifrig nach Puzzleteilen. Alma spürte, dass er glücklich war. Hier in Gavignano tollte er stundenlang mit dem Hund von Nazzarenas Vater herum. Mit den anderen Kindern zog er umher, besuchte die Esel oder Ziegen auf den Weiden, rannte fasziniert den Hühnern und Schmetterlingen nach. Hier passierte es nie, dass er ganz still wurde und in sich versank wie zu Hause, wenn seine Brüder von ihren Erlebnissen in der Schule erzählten und jeder versuchte, lauter und origineller zu sein als der andere. Wenn Traurigkeit in seinen Augen aufflackerte und Alma seinen Schmerz darüber erahnte, dass er anders war, dass für ihn vieles nicht möglich war. Das waren die Momente, in denen sie wusste: Jetzt brauchte er ein Zeichen, dass er dazugehörte, die Gewissheit, dass sie da war. Nur für ihn.
VII
Alma und ihre Geschwister schliefen in einer der beiden Dachkammern. Diese waren über eine schiefe Steintreppe an der Aussenmauer des Hauses erreichbar, genauso wie das Klohäuschen am Ende des Holzstegs über dem Miststock. Alma erwachte viel zu früh, noch vor dem Ave Maria. Sie hörte die Esel schreien. Vogelgezwitscher. Dann Ruhe. Diese lähmende Stille. Erst das Meckern der Ziegen und das Schreien der Ziegenhirten beruhigten sie.
Es war Sonntag, und Alma, Irene und ihre Brüder waren mit Nazzarena, deren Eltern und Geschwistern und deren Familien auf dem Weg zum Gottesdienst. Alle drehten die Köpfe nach ihnen. Auch das konnte Alma nicht ausstehen. Dieses schreckliche Schaulaufen!
Frauen und Männer in ärmlicher Sonntagskleidung strömten zur Kirche. Die älteren Frauen in Schwarz mit Kopftuch, die jüngeren in langen Röcken und mit selbstgestrickten Umhängen über den Schultern. Die Männer in Gilet, Krawatte und Zylinder. Die wenigsten trugen die in der Stadt in Mode gekommene Melone.
Alma hatte ihr neues Kleid an. Es war aus weichem Baumwollstoff mit rot-schwarzem Karomuster und Bordüren aus schwarzem Samt. Mutter hatte es beim Schneider bestellt, weil sie, die älteste, hochgeschossen in den letzten Jahren, nichts Anständiges mehr anzuziehen gehabt hatte. In Rom gefiel sie sich darin, hier aber war ihr, als fiele sie aus dem Rahmen, was ihr gar nicht behagte. Alma schaute weder nach rechts noch nach links, als sie die Kirche betraten, sondern starr auf den Boden. Sie schloss dicht zu Nazzarena auf, hielt Rücken und Schultern gerade, so wie sie es von den Nonnen gelernt hatte, und kniff die Lippen zusammen. Nur nicht die Zähne zeigen, die hervorstehenden. Die neugierigen Blicke der jungen ciociari waren ihr unangenehm, und sie wagte erst wieder aufzuschauen, als sie sich in eine Kirchenbank gesetzt hatten. Ihr war heiss trotz der Kühle im Kircheninneren. Verunsichert wandte sie sich zu Pietro, der neben ihr sass, und nestelte an seinem Hemdkragen herum. Der Bruder wehrte sich sofort heftig.
Endlich! Die Kirchenorgel mit dem Eröffnungsstück. Don Innocenzo und die Messdiener erschienen, das Schwatzen verstummte und die Blicke der Gläubigen richteten sich nach vorn. Weihrauch strömte vom Altarraum in den bis auf den letzten Platz besetzten Kirchenraum.
Die Messe begann, und Alma versank in Gedanken. Sie malte sich die Rückkehr nach Rom aus. Am nächsten Tag würde das ganze Haus sauber gemacht, Vorräte würden bereitgestellt, die Sachen gepackt. Der blecherne Bottich, der neben dem Miststock stand und Regenwasser auffing, auf dessen Rand die Vögel frühmorgens fröhlich zwitschernd hin- und herhüpften, würde in die Küche gebracht. Mit warmem Seifenwasser würden sie den ganzen Staub und Dreck des Sommers abschrubben, bis ihre Haut rosig glänzte. Zuerst die Buben, dann sie und ihre Schwester.
Dann all die Leute, die kommen würden. Die ganze Verwandtschaft von Nazzarena, ihre Freundinnen, die Nachbarn und viele Bekannte. Das halbe Dorf. Die älteren Frauen würden die widerstrebenden Kleinen an die üppige Brust drücken, alle würden ihnen eine gute Heimreise wünschen und hoffen, dass sie das nächste Jahr wieder kommen würden.
Nur das nicht! Nächstes Jahr würde sie sich entschlossener dagegen wehren, aufs Land abgeschoben zu werden, schwor sich Alma. Am Tag darauf, morgens in aller Frühe, würden sie mit der klapprigen Kutsche ins Tal hinunterrattern, den Omnibus besteigen und später mit dem Zug in die Stadt zurückfahren. Sie freute sich auf den Moment, wenn sie in die Stazione Termini einfahren, mit der Kutsche die Piazza Santa Maria Maggiore überqueren und dann endlich in die Via Merulana einbiegen würden. Bei dieser Vorstellung kräuselten sich Almas Nackenhaare, und ein Strahlen huschte über ihr Gesicht.
Nach der Messe verliessen die Frauen die Pfarrkirche und eilten nach Hause an den Herd. Die Männer suchten die nächste Bar auf, bestellten Kaffee und Wein und begannen zu debattieren.
VIII
Unkundig und uferlos beginne ich mit den Recherchen. Beharrlich lese ich mich durch historische Sachbücher und Reiseberichte, Stadtführer und Enzyklopädien. Im Antiquariat finde ich ein rotes Büchlein, das zu meiner Rom-Bibel wird: «Baedekers Handbuch für Reisende, Mittelitalien und Rom, Jahrgang 1908, mit Stadtplan und Strassenbahnplan.» Fasziniert lerne ich die Stadt kennen, in- und auswendig. Ich lebe in ihr! Zumindest auf dem Papier und so weit, als sie noch nicht über den Ring der Aurelianischen Stadtmauern hinausgewachsen ist. Ich lese Werke von Schriftstellerinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und versuche, dem Denken, den gesellschaftlichen Normen und dem Lebensgefühl jener Zeit auf die Spur zu kommen. Neugierig sammle ich Familienfotos und nehme sie unter die Lupe. Ich entdecke die Gedichtbände von Pietro und Attilio und erfahre, dass Pietro, der Zurückgekehrte, zeitlebens die Berge besang, und Attilio, der Zurückgebliebene, sich stets nach der Familie als Hort der Wärme und Geborgenheit sehnte.
Trotz meiner akribischen Suche bleiben viele Fragen offen, und oft wünsche ich mir, ich könnte mich in jene Zeit hineinversetzen, ein Zeitfenster aufstossen und einen Blick erhaschen vom damaligen Leben in der Via Merulana.
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