Um 17 Uhr traf sich die Führungscrew der «Schweizer Presse» mit den zwei Reportern zur Besprechung. Fotochefin Gabriela von Stetten zeigte einige Fotos von Karolina Thea Fröhlicher. Viele waren es nicht. Und auf den meisten trug sie einen Reithelm. Trotzdem war eindeutig, dass sie es war, die Joël zusammen mit Luis Battista ertappt hatte.
Anschliessend berichteten die beiden Reporter, sie hätten auf die Schnelle keine Verbindungen zwischen der Familie Battista und der Familie Fröhlicher gefunden. Einzig bei der Verlegung des Hauptsitzes des Parlinder-Konzerns von Deutschland in die Schweiz tauche der Name Luis Battista auf. Das war vor sechs Jahren. Luis Battista sass damals noch im Parlament, war Mitglied der Wirtschaftskommission und hatte den Umzug in einem Interview begrüsst.
«Was wissen wir über die Parlinder AG?», fragte Myrta.
«Das ist ein riesiger, etwas unübersichtlicher Konzern», erklärte Nachrichtenreporterin Elena Ritz. «Seit sechs Jahren in Liestal ansässig …»
«Deshalb Battistas Freude», unterbrach der stellvertretende Chefredakteur Michael Kress. «Der ist doch Baselbieter. Parlinder und Fröhlicher sind sicher tolle Steuerzahler.»
«Fröhlicher selbst hat seinen Wohnsitz in Riehen, Kanton Basel-Stadt», fuhr Elena Ritz fort. «Über ihn ist wenig Privates zu finden. Er taucht nur im Zusammenhang mit seiner Firma auf. Und selbst da sehr selten. Parlinder ist ein Firmenkonglomerat aus allen möglichen Branchen. Gegründet 1906 von Gerhard Parlinder in Oberösterreich als Müllereibetrieb, später Ausbau zur Lebensmittelhandlung, nach dem Krieg Beginn der Zusammenarbeit mit dem deutschen Kaufmann und Handelsvertreter Gustav Fröhlicher senior. In den 50er-Jahren Übernahme durch Fröhlicher, Schliessung sämtlicher Läden, Konzentration auf die Lebensmittelproduktion und den Grosshandel. Seit 1979 wird die Firma von Gustav Fröhlicher junior geleitet, der sich offiziell Gustav Ewald Fröhlicher nennt.» Elena betonte den zweiten Vornamen. «Er hat den Rohstoffhandel stark erweitert, die Abteilung Lebensmitteltechnologie und -chemie geschaffen und auch diverse chemische Unternehmen übernommen. Heute ist die Firma auf der ganzen Welt tätig, sie geriet immer wieder in die Schlagzeilen der Wirtschaftsmedien wegen des Verdachts auf unerlaubte Absprachen und Schmiergeldzahlungen, allerdings konnte ihr nie etwas nachgewiesen werden. Der Firma scheint es gut zu gehen.»
«Danke», antwortete Myrta.
«Also, was machen wir?», fragte Michael Kress und fügte gleich hinzu: «Wenn dein Joël uns wieder verarscht und das Bild nicht echt ist, sondern im Photoshop zusammengeklickt, sind wir am Ende. Einen solchen Prozess können wir nie bezahlen. Wir müssen uns absichern. Wir sollten das mit dem Verleger besprechen.»
«Wir sollten vor allem einige Heftchen mehr verkaufen, sonst werden wir alle bald gar nichts mehr bezahlen, weil wir keinen Lohn mehr erhalten. Also, schreibt die Geschichte. Und knallt das Bild auf die Titelseite!»
«Und mit welcher Schlagzeile?», fragte Kress.
Myrta überlegte einen Augenblick. Dann sagte sie: «Erwischt, Ausrufezeichen. Bundesrat Battista am Fremdflirten.»
LABOBALE, ALLSCHWIL, BASELLAND
Er verdiente zwar viel Geld, doch sein Name würde niemals an einer Universität erwähnt werden. Das hatte sich Phil Mertens zu Beginn seiner Karriere anders erhofft. Heimlich hatte er vom «Mertens-Prinzip» geträumt, das einmal den nächsten Generationen von Wissenschaftlern vermittelt würde. Tatsächlich hatten er und sein Team wohl eine spektakuläre Arbeit zustande gebracht. Aber die Welt würde nie erfahren, welches Genie dahinter steckte. Gut, er wusste, das mit dem Genie war vielleicht ein bisschen übertrieben, die Konkurrenz war auch nicht doof, aber trotzdem, ein bisschen Ruhm und Ehre hätten ihm schon gefallen.
Eine halbe Million Schweizer Franken Jahresgehalt brutto, steueroptimiert verwaltet, wie die Firma stets versicherte, mit Weissgeld-Garantie. Zusätzlich je nach Geschäftsgang bis zu einer halben Million Bonifikation in Form von Wertpapieren aller Art, ebenso garantiert lupenrein sauber. Plus ein Haus, ein Auto und alle Reisekosten, egal ob geschäftlich oder privat. Nicht schlecht in Zeiten wirtschaftlicher Depression und grassierender Finanzkrise.
Als Phil Mertens realisierte, dass er philosophierte und sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren konnte, beschloss er, Feierabend zu machen. Es war bereits kurz vor 21 Uhr. Er wollte gerade den Rechner hinunterfahren, sah aber das Fenster auf dem Computerschirm blinken, in dem die Meldung angezeigt wurde, dass sich seine Chefin Mette Gudbrandsen im Hochsicherheitslabor im U4 aufhielt.
Als er unten ankam und sämtlichen elektronischen SecuritySchnickschnack hinter sich hatte, rief er: «Na, Mette, immer noch am Arbeiten?»
«Hey, Phil, du auch?», antworte sie ganz ruhig, sie schien keineswegs von seinem Besuch überrascht zu sein.
«Ich mache Schluss», sagte Phil. «Kann ich dir helfen? Suchst du etwas?»
Natürlich war Mette die Chefin, aber das Labor war Phils Reich. Es interessierte ihn schon, was sie hier trieb.
«Nein, ich wollte bloss wieder einmal Labor-Luft schnuppern, diesen typischen Geruch von Essigsäure und Desinfektionsmittel! Schade, dass ich heute fast nur noch im Büro sitze.» Sie schaute durch die dicken Glasscheiben ins Heiligtum des Labors hinein, dort, wo all das, was sie am Computer berechnete, Wirklichkeit wurde. Jene Zone war nur mit komplettem Schutzanzug und durch Schleusen erreichbar. «Hier passiert doch der spannendste Teil der Arbeit», sinnierte Mette.
Phil glaubte ihr kein Wort, sagte aber: «Das geht uns doch allen so. Wirst du sentimental?»
«Nein, nein, natürlich nicht», antwortete Mette sofort. «Aber wenn ich schon unseren, oder besser gesagt deinen Grosserfolg als Vorgesetzte verantworten darf, möchte ich dieses Gefühl hoher Wissenschaft wieder in mir aufleben lassen.»
«Oh, ich verstehe …»
Mette lehnte sich an den Labortisch und verschränkte die Arme. Dadurch wurde ihr Busen etwas angehoben und erschien jetzt ein gutes Stück grösser. Sie griff sich an den Kopf, zog den Gummi von ihrem strengen, kurzen Pferdeschwanz, warf die halblangen, blonden Haare in den Nacken und lächelte Phil an. «Wie war dein Weihnachtsfest?»
Phil wandte den Blick sofort ab, drehte sich um und tat so, als putzte er im Schüttstein einen Fleck weg. Er spürte, wie Mette ihn anstarrte.
«Es war okay», sagte er und dachte: Wie idiotisch ist das alles? Mette ist doch eine nette Frau, eine interessante Kollegin, warum sollte sie ein falsches Spiel mit mir treiben? Warum können wir nicht normal miteinander umgehen? Warum dieses Misstrauen?
«Wünschst du dir manchmal nicht auch, Phil, wir könnten nochmals Studenten sein?», fragte sie.
«Also doch sentimental», stellte Phil fest und fügte gleich hinzu. «Bei dir ist es ja noch nicht so lange her, Mette, schliesslich bist du einiges jünger als ich.»
«Tja, zwölf Jahre …»
Phil erwartete, dass sie noch etwas anfügte. Die Pause machte ihn nervös, also sagte er rasch: «Lass uns gehen!»
Im Lift sprachen sie kein Wort. Phil achtete darauf, dass er so weit wie möglich von ihr entfernt stand und sie nicht anschaute. Wie das Labor war auch der Fahrstuhl videoüberwacht – trotzdem wollte Phil auf Nummer sicher gehen. Er war schliesslich ein Mann und sie eine Frau, langbeinig, blond, sexy. Die geringste Zweideutigkeit seinerseits könnte seine Karriere zerstören.
Legt sie es darauf an?, fragte er sich. Und wenn ja, warum? Ich werde langsam paranoid.
Um 21.36 Uhr rollte er in seinem Volvo XC90 aus der Tiefgarage der Firma. Er fuhr einige Meter bis zum Tankstellen-Shop Coop Pronto. Dieser liegt direkt vor dem Biotechnologie-Unternehmen Actelion, das mit seinem verschachtelten Bau eine architektonische Sehenswürdigkeit der gesamten Region geschaffen hat. Phil bestaunte es immer wieder. Das Gebäude mit seinen übereinander gestapelten Stahlträgern konkurrenziert locker den ebenso eigensinnigen «Campus des Wissens» des Pharmakonzerns Novartis und auch sämtliche Bauten des zweiten Basler Pharma-Riesen Roche. Dagegen war der Betonklotz von Labobale äusserst schlicht. Im Gegensatz zu den Grossen der Branche galt bei Labobale der Grundsatz: Bloss nicht auffallen. Trotzdem wäre es schön, in einem attraktiveren Gebäude zu arbeiten, dachte Phil. Ein blödsinniger Gedanke, sagte er sich sofort, denn wo er in Zukunft weiterforschen würde, hing stark von seinem Virus BV18m92 ab.
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