Bis er inmitten dieses heillosen Durcheinanders einen Shiba entdeckte. Ihm wurde ganz schwer ums Herz, vor allem, als sich ihre Blicke kreuzten und der Hund plötzlich stehen blieb. Ein paar Sekunden schien die Zeit stillzustehen.
»Aristid …«, murmelte Homer.
Daraufhin entfernte sich der Hund eilig vom Spielfeld und verschwand in den Kulissen. Bibi Zwo klammerte sich an Homer, in einem vergeblichen Versuch, ihn zum Trost mit ihren kurzen Beinchen zu umarmen. Der Junge streichelte ihr dankbar über den Rücken, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden, an der der Shiba verschwunden war. Plötzlich sah er ihn noch einmal, wie er den schmalen Gang vor der Bühne entlanglief. Homer sprang auf, was die treue kleine Freundin auf seiner Schulter etwas aus dem Gleichgewicht brachte.
Der Hund schien ihn irgendwohin führen zu wollen. Immer wenn Homer sich ihm näherte, lief er mit wedelndem Schwanz weiter, dann blieb er wieder stehen, wartete auf ihn und rannte kurz darauf wieder los. Homer ließ ihn nicht aus den Augen.
Sobald sie in den Kulissen hinter der Bühne angelangt waren, verschwand der Hund wieder. Homer blieb allein mit Bibi zurück, die sich an der Schulterklappe seiner Jacke festhielt.
Da bemerkte er einen Umriss: An einem Tisch saß eine Frau und nähte an Zirkusuniformen. Homer sah nur ihren leicht über die Arbeit gebeugten Rücken und ihr Haar, dass zu einem riesigen, fluffigen Knoten frisiert war, der sich seltsam bewegte.
Neugierig sah der Junge genauer hin und wäre beinahe hintenübergefallen: In dem Haarknoten flatterten die Seiten eines Buches herum, ein winziges Boot trieb auf heftigen Wellen, Wolken zogen dahin, eine Sonne und ein Mond drehten sich … ein imaginäres Miniaturuniversum, aber vollkommen realistisch, entsprang dem Geist dieser Frau.
»Ist sie nicht wunderschön?«, flüsterte eine Stimme hinter ihm.
Er erschauderte. Ein Mann in einem eleganten Anzug stand plötzlich neben ihm und schaute die Schneiderin verliebt an. Um den Hals trug er eine Fliege, die mit ihren sanft flatternden, bläulich schimmernden Flügeln aussah wie ein wunderschöner echter Schmetterling.
In diesem Augenblick trat der Shiba wieder in Erscheinung. Im Maul trug er eine große Lupe. Er stupste Homer mit dem Kopf am Bein an und ließ sie ihm vor die Füße fallen. Der Junge, der sich wunderte, dass er nicht schneller begriffen hatte, was der Hund ihm sagen wollte, nahm die Lupe und näherte sich damit der ausgefallenen Frisur der Schneiderin.
Eine Meereswelle schleuderte ihre Gischt gegen die Glaslinse der Lupe, aber das hinderte Homer nicht daran, sich das Schiff und die fast mikroskopisch kleinen Männer darauf genauer anzusehen. Drei von ihnen hissten die Segel und einer klammerte sich mit aller Kraft an die Spitze des Mastes, als wolle er ihm ein Zeichen geben.
Plötzlich blieb Homer beinahe das Herz stehen. Er hatte seinen Vater entdeckt, im belebten Haarknoten der Schneiderin! Er hätte ihn unter sieben Milliarden Menschen erkannt! Doch noch sicherer machte ihn die Tatsache, dass er die beiden Silben seines Namens in den Lippenbewegungen des Matrosen erkannte, der aus vollem Halse zu schreien schien: »HO-MER!«
»Papa?«, stammelte er.
Er sah gerade noch, wie der Matrose ihm flehend die Hand entgegenstreckte, als die Schneiderin sich plötzlich umdrehte.
Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute den Jungen fragend an.
»Wer bist du?«, fragte sie.
Im selben Moment wurde Homer von einer unsichtbaren, aber unerbittlichen Kraft fortgezogen. Er kam nicht dagegen an und wurde aus dem Zirkuszelt, von dem Jahrmarkt und der Insel Ithaka weggetragen.
Einige Sekunden später saß er sprachlos und außer Atem wieder auf dem Sofa im Studio seines Vaters.
Homer! Homer! / Komm wieder zu dir!«
Bibi Zwo rüttelte bereits seit einigen Minuten an der Schulter ihres Besitzers, ohne dass dieser reagierte. Vergeblich zog sie ihn am Ohrläppchen und tätschelte ihm die Wange. Homer saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sofa und rührte sich nicht. Körperlich war er anwesend, doch sein Geist war woanders. Wahrscheinlich noch auf Ithaka.
Plötzlich fing er heftig an zu zittern. Er holte tief Luft, wie ein Taucher, der wieder an die Wasseroberfläche kommt, und starrte die Rennmaus, die nun auf einem seiner Knie hockte, unverwandt an.
»Ich bin eingeschlafen und habe geträumt, oder, Bibi?«, murmelte er noch ziemlich durcheinander.
Die Rennmaus schüttelte verneinend den Kopf und trippelte über den Oberschenkel des Jungen bis zur Tasche seiner Pyjamahose, in der sie verschwand.
»Aber was machst du denn da?«, rief Homer.
Er half ihr wieder heraus und hätte sie vor Schreck beinahe fallen lassen, als er zwischen ihren kleinen Pfoten einen vergoldeten Knopf mit einem eingravierten I erkannte.
»Soll das heißen, dass das alles wirklich passiert ist?«, stammelte er.
»Die Riesin mit dem Hut, das große Zirkuszelt, der bucklige Zwerg, die Chimäre und der Zerberus – alles bizarr, aber wahr …«
Homer blieb vor Erstaunen über das Gesagte der Mund offen stehen. Sofern sie nicht seine Gedanken lesen konnte, konnten seine Rennmaus und er unmöglich exakt den gleichen Traum gehabt haben.
Behutsam nahm er den Knopf und begutachtete ihn näher.
»Irre … das ist einfach total irre.«
Doch weder er noch die Maus wagten den heikelsten und wunderbarsten Punkt an dieser außergewöhnlichen Erfahrung anzusprechen. Homer starrte auf die traurig weiße Leinwand, während Bibi ihn im Blick behielt.
»Was hat Papa da gemacht?«, murmelte er.
Er hatte dieses Wort – »Papa« – schon so lange nicht mehr laut ausgesprochen, dass es ganz seltsam klang.
Die Rennmaus wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
»Und wo ist er da überhaupt? Kannst du mir das sagen?« Seine Stimme klang plötzlich ganz panisch. »Ist das das Paradies? Denn wenn es das Paradies ist, dann heißt das, dass er …«
Er wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Den Gedanken hatte er in den letzten fünf Jahren zwar schon oft gehabt, aber ausgesprochen hatte er ihn noch nie.
»Wem wir im Paradies begegnen / ist nicht mehr am Leben«, sprach Bibi Zwo es aus. »Doch auf Ithaka tobt das Leben / und dort ist dein Vater, welch ein Segen!«
»Es wäre ein Segen, wenn er wieder leibhaftig hier bei uns wäre. Denn ich hab keine Ahnung, was dieses Ithaka ist, geschweige denn, wo es ist und wie man da hinkommt!«
»Die Fragen klingen kompliziert / doch die Antworten sind bereits hier.«
Homer dachte nach … auf jeden Fall waren die Antworten schlimmer als die Fragen!
»Du bist schon zu müde zum Denken / und solltest etwas Schlaf dir schenken«, empfahl ihm die Rennmaus.
Homer musste ihr recht geben. Er fühlte sich vollkommen kraftlos, doch als er schließlich im Bett lag, war alle Müdigkeit plötzlich verschwunden. Im Schein seiner Nachttischlampe betrachtete er noch lange das Stück Filmrolle, das der Zerberus im Pelzmantel hatte sehen wollen, konnte aber nichts Ungewöhnliches daran erkennen. Sicherheitshalber verstaute er es in der Schutzhülle seines Handys, damit es auch ja nicht verloren ging. Wer weiß … vielleicht würde er es ja irgendwann noch einmal brauchen?
Seine Haare und sein T-Shirt rochen noch immer nach Zuckerwatte und gebrannten Erdnüssen vom Jahrmarkt, und seine nackten Füße waren schwarz vor Schmutz. Doch er wollte nicht noch einmal aufstehen, um zu duschen und sich umzuziehen, aus Angst, die Erinnerung an das Bild seines Vaters am Schiffsmast, an seinen Hilferuf und seine nach ihm ausgestreckte Hand könnte verschwimmen.
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