Plötzlich wurde es ganz still. Doch Homer wagte nicht sofort, seine Augen wieder zu öffnen. Etwas sagte ihm, dass er sich nicht friedlich in seinem Bett befinden würde, als wäre all das nur ein unglaublicher Traum gewesen, einer von denen, die das Gefühl hinterließen, man hätte sie wirklich erlebt, weil sie so echt wirkten.
Mit noch immer geschlossenen Lidern tastete er nach seiner Schulter. Bibi Zwo saß weiterhin zitternd darauf und klammerte sich fest.
»So ein Tornado, alle Wetter / da wirbeln die Haare wie Blätter!«, seufzte sie in sein Ohr.
Zuckerwatteduft lag in der Luft und in der Ferne hörte man eine Blaskapelle spielen. Mit jeder Sekunde übertrumpfte Homers Neugier seine Furcht. Er blinzelte durch ein Augenlid, dann durch das zweite: Vor ihm erhob sich auf einer Insel die Kuppel eines riesigen, rot-goldenen Zirkuszeltes, dessen Fähnchen bei Sonnenuntergang im Wind flatterten.
Die Augen des Jungen weiteten sich vor Erstaunen und Besorgnis: Das Zirkuszelt war vollkommen identisch mit den Skizzen seines Vaters.
»Für das letzte Schiff zum Zirkus Ithaka hier entlang bitte!«, sagte eine Frau mit kraftvoller, feierlicher Stimme.
Homer zuckte unwillkürlich zurück, als er entdeckte, wer ihn da angesprochen hatte.
Ein menschliches Gesicht mit kantigen Zügen, einer rot flammenden Löwenmähne und einem am unteren Ende wie eine Schlangenzunge gespaltenen Ziegenbärtchen. Das Wesen hatte einen gedrungenen, haarigen Körper und trug einen Mantel aus rotem Samt … faszinierend und bedrohlich zugleich, hockte es auf seinen Hinterbeinen und richtete seinen stechenden Blick auf den Jungen, der sich dabei schrecklich klein und verletzlich vorkam.
»Ich glaub’s nicht, sieht fast aus wie eine Chimäre …«, murmelte er.
»Strapazier nicht ihre Geduld / sie ist dir nicht immer so hold«, beschwor ihn die Rennmaus leise und bestätigte damit seine Vermutung.
Die Chimäre reichte ihm ihre Tatze, deren Krallen tadellos gefeilt und mit rosa Glitzer lackiert waren.
»Wenn ich bitten darf!«, sagte sie noch einmal.
Ihr drängender, fast schon erboster Ton erlaubte keine Widerrede. Homer sah sich um. Er war allein. Der Befehl richtete sich an ihn.
Das Schnittstudio tauchte noch einmal in seinem Augenwinkel auf, das Sofa, auf dem er noch vor wenigen Augenblicken gesessen hatte, der Projektor, der Lichtkegel mit den bewegten Bildern, die Filmspulen, das Durcheinander. Er sah nun alles von der anderen Seite der Leinwand aus, wie durch ein offenes Fenster! Doch sobald er den Blick auf das Zimmer richtete, verblasste es.
Unmöglich, einen Rückzieher zu machen.
Also holte Homer tief Luft und ging mit seiner Rennmaus auf der Schulter direkt auf die Chimäre zu.
Das Meer war tintenschwarz und die Wellen plätscherten gegen den kunstvoll wie eine Gondel verzierten Kahn, der von riesigen Libellen gezogen wurde.
Hinter Homer stand die Chimäre und lenkte das Boot direkt auf die Insel zu, die in das warme Licht eines herrlichen Sonnenuntergangs getaucht war. Das fröhliche Lärmen, das der Junge bereits vom Ufer aus wahrgenommen hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Mittlerweile konnte er schon das Geräusch des Riesenrads hören und Trompetenklang, vermischt mit ausgelassenem Kindergeschrei.
Obwohl die ganze Situation sehr merkwürdig war, verspürte Homer zu seiner eigenen Verwunderung keine Angst. Er war buchstäblich von einem Strudel aus Worten durch eine Leinwand gesaugt worden und trieb nun auf eine geheimnisvolle Insel zu, in einem Kahn, gesteuert von einer … Chimäre. Doch er fühlte sich wohl. Vielleicht war er ein wenig nervös darüber, was ihm da geschah, aber auch voller Ungeduld, die Insel zu erkunden.
»Ist doch alles gaaanz normal, warum sollte ich da ausflippen?« , dachte er mit einer gewissen Ironie.
»Tssstttt«, zischte die Chimäre aus wulstigen Lippen.
Homer erschauderte. Konnte sie etwa seine Gedanken lesen? Plötzlich beunruhigt, griff er nach Bibi und drückte sie an sich.
»Diese Chimäre / verbreitet düstre Atmosphäre«, murmelte das kleine Tier.
»Und hat ’nen Blick wie Speere«, trumpfte der Junge auf.
»Voller stolzer Ehre …«
»Bestimmt auch Hexenlehre …«
Homer brach in Lachen aus. »Bibianisch« zu reden war lustig.
»Es wäre ’ne Misere / kommt man ihr in die Quere«, fuhr er, ganz begeistert von diesem Spiel, fort.
»Schschsch…tilll!«, zischte die Chimäre erneut.
Homer kniff die Lippen zusammen und wurde wieder ernst. Er hielt die Nase in den Wind und atmete die salzige Luft und den Duft von Süßigkeiten ein, bei dem ihm das Wasser im Mund zusammenlief.
Die Chimäre steuerte auf einen mit bunten Lampions beleuchteten Steg zu, die in der Meeresbrise schaukelten, und bald darauf legte das Boot dort an. Homer traute seinen Augen kaum, als wie Matrosen gekleidete Äffchen sich daran machten, den Kahn anzubinden. Irgendetwas sagt mir, dass das noch nicht die letzte Überraschung war …
Als er aufstand, geriet er so ins Wanken, dass die Chimäre ihn auffangen musste und ihn schließlich ohne Umschweife auf den Steg hob.
Aufgekratzt hüpfend, umringten ihn die Affen und einer von ihnen packte ihn am Saum seines Pyjamas und zog ihn zu einer Treppe, die in den Fels gehauen war.
Mit jeder der Hunderten von Stufen, die die Anlegestelle mit der Insel verbanden und die Homer nun erklomm, wurden die festlichen Geräusche immer verheißungsvoller.
Als er schließlich etwas außer Atem und mit brennenden Waden oben ankam, blieb ihm der Mund offen stehen. Alles kam ihm gigantisch vor, das Zirkuszelt und das Riesenrad schienen bis in den Himmel zu reichen. Farben, Gerüche und Geräusche vermischten sich in einer Fülle, die die Sinne überflutete.
Die Affen zupften Homer am Ärmel und zerrten ihn weiter zum Zirkuseingang, einem bunt gemusterten Bogen, vor dem ein Mann mit Absatzschuhen und einem schwarzen Pelzmantel stand, der ihm das Aussehen eines Bären verlieh. Doch seine stattliche Statur war nichts gegen … seine drei Köpfe!
Die Köpfe saßen auf seinem kräftigen Nacken, und er hatte die Haare mit Pomade fein säuberlich zurückgekämmt. Mit der Kraft seiner drei Augenpaare sah er Homer durchdringend an. Der Junge wusste nicht, auf welches Paar er seinen Blick richten sollte. Er stand dem Zerberus gegenüber, so wie sein Vater ihn entworfen hatte: Aus dem mythologischen Hund mit drei Köpfen hatte seine Fantasie einen dreiköpfigen Mann gemacht, der aussah wie eine Mischung aus elegantem Bären und Tangotänzer.
»Karte!«, bellte der mittlere Kopf.
Sein Bariton machte Homer nervös. Zumal er keine Ahnung hatte, was er meinte.
»Ihre Eintrittskarte, bitte!«, hakte der linke Kopf nach.
»Ich … ich hab keine …«, stammelte Homer.
»Aber natürlich, sonst wären Sie nicht hier!«, polterte der dritte Kopf.
»In der Tasche deines Pyjamas / findest du etwas«, flüsterte die Rennmaus.
Der Junge durchsuchte hastig seine Taschen. Das Stück Filmrolle! Mit zitternder Hand reichte er es dem pomadigen Zerberus, der es mit einer Taschenlampe untersuchte. Als er damit fertig war, sagten seine drei Köpfe wie aus einem Munde: »Willkommen im Zirkus Ithaka, dem Königreich der zweiten Chance!«
Mit diesen Worten gab er Homer das Stück Film zurück und trat zur Seite. Der war so baff, dass er nicht mal mehr ordentlich danke sagen konnte.
Ein Weg aus Eukalyptusrindenmulch schlängelte sich bis zum Eingang des Jahrmarkts, wo Homer von einer sehr seltsamen Person erwartet wurde: einer Frau im schwarzen Kleid, die so groß war, dass man sich den Hals verrenken musste, um ihr in die Augen zu schauen.
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