Homer verbrachte also viel Zeit an diesem Ort und manchmal passierte es ihm auch, dass er dort einfach einschlief. Lylou und Sascha gesellten sich dort oft zu ihm, denn zusammen bildeten sie die Rockband »Triangle«, und die Garage war ein perfekter Ort zum Proben. Lylou spielte Gitarre und sang, Sascha saß am Klavier und sang zusätzlich im Background und Homer spielte Schlagzeug. Wenn sie nicht probten, zockten sie oder erfanden die Welt neu, während sie M&Ms knabberten oder Essigchips, die so sauer waren, dass sie Grimassen schneiden mussten.
Das war die gute Seite.
Homer nahm behutsam seine Rennmaus, die auf dem Armaturenbrett hockte, und setzte sie sich auf die Schulter. Die leichten Berührungen der Maus am Hals zu spüren, wirkte immer beruhigend auf ihn, und auch wenn er eigentlich schon zu alt für so etwas war, war sie ein bisschen wie ein lebendiges Kuscheltier für ihn.
Die Rennmaus, die ihm Nina am Vortag geschenkt hatte, entpuppte sich als noch lebhafter als ihre Vorgängerin, die er zu seinem siebten Geburtstag bekommen hatte und die vor drei Monaten gestorben war. An dem Tag hatte er ein bisschen geweint, heimlich, denn dieses kleine Lebewesen verband er so sehr mit seinem Vater. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, ein paar Worte an sein kleines verstorbenes Haustier zu richten, das ihn während all der Jahre begleitet hatte.
Also streichelte er das honigfarbene Fell am Rücken seiner neuen Rennmaus, stieg mit ihr aus dem Auto und machte die Wagentür so vorsichtig hinter sich zu, als handle es sich um eine wertvolle, zerbrechliche Antiquität.
Laue Windböen wehten wie so oft und trugen das Geräusch der Wellen zu ihm herüber, die sich nicht weit vom Anwesen der Pyms am Fuße der Steilküste brachen.
Fantasievoll, wie Homer war, neigte er dazu, in dem, was ihn umgab, etwas anderes zu sehen oder zu hören als das, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden konnte. Die Form einer Wolke, die Art und Weise, wie sich ein Insekt fortbewegte, das Zwitschern eines Vogels … Er sah darin Zeichen, die er interpretierte, und entfloh so oft der Realität. An diesem Tag wollte ihm der Wind eine Welt zeigen, die atmete, sich wandelte, lebte. So wie er.
»Hallo Gutfried!«, rief er dem rosa Schweinchen zu, das sich in seinem Gehege abseits des Hauses vergnügte.
Das Tier schien stets zu lächeln und sah ihm, auf einer Kartoffel oder einem Stück alten Brots herumkauend, nach, als er vorbeilief. Homer und seine Mutter hatten es am Tag nach Davids und Aristids Verschwinden im Garten gefunden. Überwältigt von Sorge, hatten sie weder Kraft noch Lust gehabt herauszufinden, wem es entwischt sein konnte. Also hatten sie es behalten, zumal niemand es zu vermissen schien.
In der ersten Zeit war es noch so klein gewesen, dass sie es wie einen Hund oder eine Katze im Haus halten konnten. Es hatte zwar nie Aristid, den schönen Shiba, ersetzen können, aber es hatte seinen Platz in der Familie gefunden.
Doch aufgrund seiner zunehmenden Körpergröße und seines Geruchs wurde ihm schließlich ein komfortables Gehege im Garten errichtet. Seitdem kümmerte sich Isabelle oft und gerne um das Tier. Sie duschte es mit dem Gartenschlauch ab, rubbelte es von Kopf bis Fuß trocken und verwöhnte es mit Essensresten, die sich das Schwein unter großem Gegrunze schmecken ließ.
Homer hatte seine Mutter auch schon des Öfteren dabei ertappt, wie sie mit dem Schwein redete. Was sie wohl … einem Schwein zu erzählen hatte? Es war seltsam. Aber definitiv auch nicht seltsamer, als mit einer Rennmaus zu sprechen, so wie er es oftmals tat.
Er ging durch den mehr oder weniger gepflegten Garten und kam an der großen Kiefer vorbei. Darunter stand sein Spielhaus aus Kinderzeiten, das sein Vater ihm gebaut hatte und das nun langsam verfiel. Er blieb vor der Korkeiche stehen, unter der Steine aufgehäuft und mit einem kleinen Kreuz aus Ästen versehen worden waren.
»Hallo Bibi, ich möchte dir Bibi Zwo vorstellen, sie ist gerade bei uns eingezogen«, sagte er und streichelte den flauschigen Kopf der Rennmaus, die vom Wind verängstigt schien.
Er setzte sich im Schneidersitz vor den Steinhaufen und fing an, von seinem Tag zu erzählen, so wie er es regelmäßig tat, da er überzeugt war, dass irgendetwas Bibi Eins mit seinem Vater verband. Aber er hatte nie – NIEMALS! – auch nur gedacht, sein Vater könnte … nicht mehr am Leben sein. Im Gegenteil, tief in ihm spürte er ganz deutlich seine Anwesenheit, seine Existenz, die Gewissheit, dass er zurückkommen würde.
»He, Bibi, was machst du da?«, rief er plötzlich und sprang mit einem Satz auf.
Die Rennmaus war ihm entwischt und flitzte nun durchs hohe Gras, in dem er ihr kaum mit den Augen folgen konnte.
»Bibi Zwo!«, schrie Homer.
Schließlich erspähte er sie weiter hinten auf dem gepflasterten Weg und er hätte schwören können, dass sie dort Männchen machend auf ihn wartete und ihn mit ihren winzigen Äuglein aufmerksam beobachtete. Doch sobald er näher an sie herankam, huschte sie wieder los in Richtung der ans Wohngebäude angrenzenden Garage und schließlich weiter zu einem kleinen rückversetzten Nebengebäude, einer Art Puppenhaus, das erst Homers Großvater und schließlich seinem Vater als Filmschnitt-Studio gedient hatte. Es war David Pyms Rückzugsort gewesen.
Die Letzten, die ihn betreten hatten, waren Polizisten gewesen, kurz bevor die Ermittlungen eingestellt wurden, die Monate in Anspruch genommen hatten, ohne zu irgendeinem Ergebnis zu führen. Isabelle Pym hatte daraufhin die Fensterläden zugemacht, die Tür verschlossen, den Schlüssel in ihre Tasche gesteckt und sich in ihr Büro zurückgezogen.
Außer Atem blieb Homer in einigen Metern Entfernung vor dem Nebengebäude stehen, das für sie alle tabu war. Die Rennmaus wartete auf der Türschwelle, auf den Hinterbeinen hockend und mit furchtbar schelmischem Blick.
»Wir können hier nicht bleiben«, flüsterte Homer nervös.
Zitternd streckte er die Arme aus, um das kleine Wesen zu sich zu locken.
»Los, komm, das ist nicht lustig.«
Erstaunlicherweise gehorchte Bibi Zwo, verließ die Türschwelle und erklomm wieder die Schulter ihres jungen Besitzers.
Mit schlechtem Gewissen, weil er sich so nah an das Studio herangewagt hatte, kehrte Homer in die Küche des Haupthauses zurück. Er schenkte sich ein großes Glas kalte Limonade ein, die in seinem Bauch zu gluckern anfing. Dann setzte er die Rennmaus auf dem Tisch ab, stützte die Ellenbogen auf die Tischkante und nahm seinen Kopf in die Hände. Er beobachtete die Maus dabei, wie sie Sonnenblumenkerne knabberte. Ein Anblick, den er gewohnt war, der ihn aber immer wieder faszinierte.
»Jetzt, wo du zur Familie gehörst, musst du wissen, dass es bei den Pyms zwei, drei Dinge gibt, die tabu sind«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Erstens ist es verboten, das Nebengebäude zu betreten. Zweitens … na ja, dasselbe. Und drittens ebenso. Hast du verstanden?«
Er hätte auf alles, was ihm lieb war, schwören können, dass Bibi Zwo beinahe unmerklich mit ihrem niedlichen kleinen Köpfchen nickte. Homer setzte sich wieder gerade hin. Wahrscheinlich verursachte der viele Schokoladenkuchen bei ihm schon Halluzinationen.
»Blödsinn«, seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel.
»Was ist Blödsinn?«, fragte Nina.
Homer zuckte zusammen. Er hatte seine Tante nicht reinkommen gehört.
»Ach nichts«, sagte er. »Gar nichts.«
Nina erblickte die Rennmaus auf dem Tisch und kraulte ihr den Kopf.
»Du bist vielleicht goldig! Aber dein Herrchen sollte dich jetzt besser in sein Zimmer zurückbringen, denn es gibt da jemanden, der deine Anwesenheit hier nicht besonders schätzt.«
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