1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Die Mutter war natürlich sehr durcheinander und voller Sorge um ihre Dorita, sie sah der Tochter ins Gesicht, zuckte die Achseln und dachte sich ihr Teil. Isadora verkroch sich in ihr Hotelzimmer, sie wollte allein sein und herausfinden, was sie fühlte. Das war nicht leicht. Sie las in Nietzsches Also sprach Zarathustra , aber anders als sonst sprach der Philosoph heute nicht zu ihr. Sie versuchte zu schlafen. Sie stand wieder auf, kleidete sich an und lief hinaus in die Nacht und an den Fluss. Es war unüblich zu jener Zeit, dass eine ehrbare Frau nachts allein umherlief, und so musste Isadora mehr als einmal vor besorgten oder zudringlichen Budapestern flüchten. Schließlich kehrte sie ins Hotel zurück – um dort zu erfahren, dass Elizabeth telegrafiert hatte: Sie würde am nächsten Tag eintreffen. Isadora machte vor Freude einen Sprung. Hier war ja doch ihr Herz zu Hause: in der Familie. Sie trank am nächsten Morgen Kaffee mit ihrer Mutter und sagte zu ihr:
»Ich glaube, ich habe das erste Mal in meinem Leben richtig viel Geld verdient.«
»So ist es, meine Kleine. Unser Konto ist gut gefüllt. Wenn das so weitergeht, können wir uns öfter mal eine Mietkutsche leisten.«
»Alexander hat eine Tournee für mich gebucht. Er will mich in lauter fashionablen Bädern herausbringen, Karlsbad, Marienbad und Franzensbad. Ich glaube, das ist eine gute Idee. Das Publikum dort ist nicht nur aufgeschlossen, es hat auch Geld.«
»Und Ansprüche«, sagte die Mutter.
Isadora fuhr auf. »Wie? Meinst du, ich hätte nachgelassen? Gestern Abend –«
»Du warst unkonzentriert, mein Kind. Du hast zwei Einsätze verpatzt. Kein Wunder nach drei Tagen ohne Proben. Die Leute haben es nicht gemerkt, sie lieben dich eben. Aber das geht nicht. Ich weiß, dieser Herr Beregi hat es dir angetan, und ich habe Verständnis. Aber du musst deine Verpflichtungen erfüllen. Deine Kunst darf nicht leiden.«
Isadora sah in ihre Tasse. »Mutter«, flüsterte sie, »steht die Liebe über der Kunst?«
Isadora in der Rolle der Priesterin in »Iphigenie auf Tauris« von Christoph Willibald Gluck, um 1903/04
»Die Kunst ist Liebe. Liebe zur Wahrheit. Zur Schönheit. Und sogar zum Publikum.«
»Das meine ich nicht. Ich meine die Liebe Julias zu Romeo. Oder Eurydikes zu Orpheus. Die Wollust. Die Seligkeit. Kann mich all das wegreißen von der Bühne, von meinem blauen Vorhang? Sag mir, muss ich das fürchten?«
Die arme Mrs Duncan wusste nicht, was sie antworten sollte. Natürlich gab es diese Gefahr. Aber es wäre für sie selbst und für die gesamte Familie eine Katastrophe, wenn Isadora ausfiele. »Du stehst doch erst am Anfang deines Weges«, sagte sie leise, »geh ihn weiter.« In Isadoras Memoiren finden sich diese Sätze: »Mein Leben kannte nur zwei Leitgedanken – die Liebe und die Kunst. Oft zerstörte eine Liebe die Kunst, und oft beendete der herrische Ruf der Kunst tragisch eine Liebe. Die beiden standen in einem ewigen Kampf miteinander.« Damals in Budapest hat der Kampf begonnen.
Elizabeth kam an, die Frauen der Familie waren wiedervereint und wussten alle drei nicht, wie sie es so lange ohne einander ausgehalten hatten. Für Isadora aber gab es jetzt noch ein Magnetfeld außerhalb der Familie, das sie stärker anzog, als sie selbst es wollte; doch wenn sie in Oscar Beregis Armen lag, war ihr alles andere egal. Sie war rettungslos verliebt, er war es ebenso, aber abends mussten sie beide auftreten und durften keine Einsätze verpatzen. Beregi war ein offener Charakter und ein Mann der Tat, er fand es nur richtig und natürlich, dass er und seine amerikanische Julia heiraten sollten.
»Du weißt es, ich habe es dir gesagt – für mich kommt eine Ehe keineswegs in Frage«, sagte Isadora mit fester Stimme.
Er breitete die Arme aus. »Dann lass es eine wilde Ehe sein. Hauptsache, wir sind zusammen.«
»Aber – wie stellst du dir unser Leben vor? Ich werde nächste Woche auf Tournee gehen, und ich denke nicht daran, die Gastspiele abzusagen. Und du … du probst den Marc Anton …«
»Richtig. Und du kannst diese Rolle mit mir üben. Dein Urteil bedeutet mir alles. Was meinst du – wäre denn die Rolle als Frau an meiner Seite für dich so gänzlich unannehmbar? Du sitzt abends in der Loge und sagst mir in der Nacht bei einem Glas Tokajer, was ich noch ändern sollte?«
Und ehe Isadora antworten konnte: ›Wie wär’s, wenn ich des Abends auf der Bühne stünde und du zuschautest‹, hatte Beregi sie um die Taille gefasst und hinausgeleitet, um mit ihr eine Kutschfahrt anzutreten. Es ging zu einem Haus, in dem Oscar eine Wohnung für sich und seine Liebste mieten wollte. »Wie findest du es hier? Für den Anfang würde es genügen. Die Küche ist ganz neu eingerichtet.« Isadora stöhnte. Er küsste sie, und sie sagte:
»Ich möchte jetzt sofort mit dir ins Bett.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn du mich heiratest.«
Nach und nach begriff Beregi, dass seine Geliebte es ernst meinte, wenn sie sagte, ihre Kunst stünde für sie an erster Stelle und sie wolle niemals eine Ehe eingehen. Er fand sie auf der Bühne ja auch so überwältigend, dass er ihr diese Einstellung zugestand. Andererseits hielt er sich selbst für die beste Partie der Welt, und deshalb hoffte er immer noch, dass sie es sich überlegen würde. Das hoffte er auch um seiner selbst willen. Denn schließlich: Hatte er jemals eine so leidenschaftliche Geliebte besessen? Die dazu noch unberührt in seinen Armen angekommen war? Eine Frau, die so wundersame Worte zu sagen wusste über seine Haare, seinen Mund, seine Stimme und sogar über seine Füße? Nein, das hatte er nicht. Einstweilen aber war sie unterwegs nach Franzensbad, und Oscar vertiefte sich in den Marc Anton.
Für Isadora war die Tour durch die Bäder eine Qual. Sie war so erfüllt von Sehnsucht nach Oscar und so unglücklich über seine Abwesenheit, dass sie keinen Schlaf fand und der Appetit ihr verging. Trotzdem trat sie auf und tanzte zu Gluck, Chopin und Wagner. Bald sah sie abgezehrt aus und musste ihre Tuniken enger stecken, man hätte sonst ihre schmale Gestalt in den wallenden Gewändern kaum noch wahrgenommen. Schließlich fiel sie krank aufs Lager. Glücklicherweise gab es in Franzensbad gute Ärzte. Die Mutter fütterte ihr Kind mit Rinderbrühe, Elizabeth half der Kranken bei der Wasserkur, aber es wurde nicht besser. Beregi erfuhr von ihrem Zustand und kam kurz entschlossen angereist. Er schlich sich sogar für die Nacht in ihr Krankenzimmer und sorgte so für eine nachhaltigere Therapie. Die Krankenschwester wurde wütend, als sie ihn entdeckte und warf ihn kurzerhand hinaus. Aber er blieb in der Nähe und besuchte Isadora täglich. Allmählich kam sie wieder auf die Beine. Sie liebte ihren Oscar und er sie, aber er musste wegen der Premiere des Julius Cäsar zurück nach Budapest und sie mit Mutter und Elizabeth weiter nach Karlsbad. Sie bemühten sich beide, dem Pathos der getrennten Liebenden Inspiration für ihre Bühnenpräsenz abzugewinnen, fühlten und wussten aber, dass es so nicht weitergehen konnte und eine Entscheidung anstand. Sie entschieden sich für die Trennung. Aber sie blieben einander gewogen und sahen sich später wieder.
Alexander Grosz übte keinerlei Druck auf seine Tänzerin aus, ganz im Gegenteil, er tröstete und besänftigte sie, wenn sie weinte, weil sie sich zu krank fühlte, um aufzutreten.
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