Übersetzt hatte den Text Karl Federn. Er schrieb dies im Vorwort: »Was Nietzsche ahnte und in künstlerisch-poetischer Erkenntnis schaute, das hat Isadora Duncan zur Tat gemacht. Wenn er sagte: ›Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden‹ – versuchen ihre Tänze, Gleichnisse der höchsten Dinge zu sein.«
Isadora hörte oft, dass sie etwas mache, was noch nie da gewesen sei, und so war es auch. Aber es gilt zu bedenken, dass sie mit ihrer Programmatik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs allein stand. Ihre Vision lag vielmehr im Zug der Zeit, die sich zunehmend für Freikörperkultur, Wandern, Turnen, Nacktbaden, Naturheilmethoden und gesunde Speisen, lose Kleider aus handgewebtem Stoff, Erziehungsprinzipien nach Art des verehrten Jean-Jacques Rousseau und seiner Devise »Zurück zur Natur« begeisterte. Man sprach von Lebensreform. Die Industrialisierung hatte die Städte verschandelt und die Luft verschlechtert – die Menschen wollten raus auf waldige Höhen und frei atmen. Aber nicht nur die äußere Natur war ihnen abhandengekommen, auch die innere. Ein seelisches Gleichgewicht verstand sich nicht mehr von selbst, und kaum noch jemand verspürte sie noch, die Gravitation des Weltalls im eigenen Solarplexus. All das musste zurückgewonnen werden – wobei es nicht recht klar war, ob es je vorhanden gewesen war. Wie oft in Umbruchzeiten verklärte man die Vergangenheit und sah sie als eine Ära, in der die Menschen besser mit der Natur gelebt, sich in ihrer Haut wohler und Gott näher gefühlt hätten. Und man beschwor ihre Wiederkehr. Es gab Gurus wie in Berlin den Maler Fidus, die ein neues frisches Lebensgefühl versprachen, wenn nur die Häuser so gebaut würden, dass in alle Zimmer einmal am Tag die Sonne schiene und wenn die Menschen täglich Gymnastik machten, sich fleischlos ernährten und barfuß liefen. So also war der Boden bereitet für eine Priesterin des natürlichen Ausdrucks im Tanz, und Isadora Duncan beschritt ihn sehr selbstbewusst und äußerst anmutig. Sie zweifelte nie an ihrer Mission und dachte immer öfter daran, dass es ihr vom Schicksal auferlegt sei, eine Schule zu gründen. Sie wollte die Kinder der Welt tanzen lehren, und zwar nicht nur ein paar auserwählte, sondern die gesamte junge Generation. Unter denen, die ihr auf der Bühne so frenetisch applaudierten, müssten doch mäzenatisch gesonnene, wohlhabende Persönlichkeiten zu finden sein, die nur darauf warteten, etwas Sinnvolles mit ihrem Vermögen anzufangen. Diesen großherzigen und einsichtigen Menschen würde sie es nahelegen, ihre Schule zu sponsern. In Berlin überzeugte sie tatsächlich mehrere Damen des Adels und einige Bankiersgattinnen, dass es unter den guten Werken, die die Zeit erfordere, nur wenige gebe, die so unverzichtbar seien wie ihre Schule.
Mutter und Töchter Duncan hatten schon lange drauf gewartet, und endlich kam er: ein Brief von Raymond. Er habe in den USA keine weiteren Aufträge bekommen, und jetzt hielte ihn nichts mehr in der alten Heimat. Er sei begeistert von Isadoras großen Erfolgen und von ihren üppigen Einkünften und sei nun unterwegs zu seiner Familie. Bruder Augustin, als Schauspieler durchaus erfolgreich, wolle sich anschließen, obschon ihm die Trennung von Frau Sarah und Tochter Temple sehr schwerfalle. Aber auch er spüre, dass die Wurzeln seiner Kunst in Europa lägen und suche neue Anregung. Isadora jubelte. Es stand noch ein Postscriptum in dem Brief. Raymond hatte nämlich einen Plan. Es gehe um einen ganz neuen Aufbruch. Was er damit wohl meinte? Isadora vertraute Raymond unbedingt. Wenn er sich etwas ausdachte, steckte immer etwas Großes dahinter.
Aber erst einmal waren es die Pläne ihres Agenten, denen Isadora Folge leisten musste. Es war das Jahr 1903. Alexander Grosz hatte für den Mai Auftritte in Paris ausgehandelt, und das war ganz im Sinne der Duncans, hatten sie doch diese Stadt verlassen, ohne das ganz große Publikum gewonnen zu haben. Und jetzt würde La Duncan im Théâtre Sarah Bernhardt ihr Debut geben, in einem ersten Haus an der Place du Châtelet; Georges Bizet und Charles Gounod hatten dort ihre Opern herausgebracht, die neue Tanzkunst passte gut hinein. Das Programm beinhaltete einen Reigen zu Botticellis Primavera, Bacchus und Ariadne , drei Stücke von Chopin und zwei Tänze ohne Musik: Der Tod und das Mädchen und Pan und Echo . Doch es war wie verhext; an fast allen der zehn Abende gab es freie Plätze im Theater, der Applaus klang verhalten, es blieb bei bloßen Achtungserfolgen. »Was ist los mit den Parisern?«, fragte Isadora ihre Mutter mit Tränen in den Augen. »Sie haben mich doch in den Salons zum Küssen rumgereicht …« Immerhin nahm sie teil an einem Fest für Auguste Rodin, der zum Kommandeur der Ehrenlegion ernannt worden war. Sie tanzte noch einmal für den Meister, er besuchte ihre Vorstellung und pries ihre Kunst. Gleichwohl: Eine Resonanz wie die in Budapest, München oder Berlin war ausgeblieben. Enttäuscht fuhren Mutter und Tochter zurück in die preußische Hauptstadt. Dort warteten nicht nur Elizabeth, sondern auch noch Augustin und Raymond. Die Familie war wiedervereint und Isadora getröstet. Sie mieteten eine geräumige Wohnung in Charlottenburg, und Isadora absolvierte noch ein paar Auftritte im Thalia-Theater und in der Philharmonie. Als alle eines Abends um den Tisch herumsaßen, verkündete Raymond seinen Plan:
»Lasst uns auf eine Pilgerreise gehen.« Das Wort ›Pilgerreise‹ löste eine verhaltene Euphorie aus. Die Mutter fragte etwas besorgt:
»Und unser Ziel?«
»Die Quelle der Kunst: Griechenland.«
Nach dem Misserfolg in Paris war Alexander Grosz bereit, seine Tänzerin erst einmal ziehen zu lassen. Die guckte auf ihr Konto. Dort hatte es schon mal besser ausgesehen, der Abstecher nach Paris war ein Zuschussgeschäft gewesen, aber der Rest war immer noch beträchtlich, die Reise konnte angetreten werden. Isadora war jetzt 26 Jahre alt, sie hatte die halbe Welt befahren und ihr vorgetanzt. Von San Francisco aus war sie in die großen amerikanischen Städte des Nordens gefahren: Chicago, New York, Boston und hatte dort ein kleines Publikum gefunden. Sie war danach in Europa, in den Hauptstädten Englands, Frankreichs, Österreichs, Ungarns und Deutschlands aufgetreten und konnte in den meisten dieser Orte ein großes Publikum bezaubern. Dabei dachte sie oft daran, dass ihre geistige, künstlerische und spirituelle Heimat eigentlich noch woanders lag: in Griechenland eben. Von daher, aus der Antike, so war sie überzeugt, stamme letztlich alle überzeitliche Inspiration für eine hohe Kunst; insofern war es ihr aufgetragen, dieses Land kennenzulernen und vielleicht sogar zum Standort ihres künftigen Lebens und Wirkens zu erwählen. War es ein Zufall, dass sich gerade jetzt die Familie wieder zusammengefunden hatte? War es ihr und den anderen nicht bestimmt, zueinanderzustehen und beieinanderzubleiben, um aus der Gemeinsamkeit Erleuchtung zu gewinnen? Die Nähe des Clans fühlte sich warm an, und Wärme war eine Form der Energie, die Isadora für die Regsamkeit, die Geschmeidigkeit und die Grazie ihrer Glieder vor allem brauchte. Sie traf sich noch einmal, zum Abschied, mit Karl Federn, schrieb Briefe an Mary Desti, Charles Noufflard und Oscar Beregi. Dann packte sie ihre Tuniken, die Chitone und die blauen Vorhänge ein. Das Herz hüpfte ihr bei der Vorstellung, auf der Akropolis zu tanzen.
Raymond Duncan nahm es sehr ernst mit dem einfachen Leben. Er war Vegetarier, trug sommers wie winters offene Sandalen, die er selbst herzustellen gelernt hatte, außerdem schlichte Gewänder aus Wolle, die er zum Teil selbst spann, und er lehnte die Eisenbahn als roh, laut und stinkend ab. Doch Mutter und Schwestern konnten ihn überreden, von einer Reise zu Fuß, die ihm am liebsten gewesen wäre, abzusehen. Die Eisenbahn war nicht ganz zu vermeiden, doch wo immer es möglich sei, wolle man wandernd oder in Kutschen und Booten zum Lande der Verheißung vordringen. Von Venedig aus ging es über die Adria auf die griechischen Inseln zu, immer auf den Spuren des Odysseus, so weit sich diese anhand des Homer nachvollziehen ließen. Hier kam es zu ersten Enttäuschungen bezüglich der Mentalität und des Wissensstandes zeitgenössischer Griechen: die jungen Bootsführer wussten gar nichts von der Odyssee und dem Trojanischen Krieg und belächelten die ›griechischen‹ Gewänder ihrer Passagiere. Überhaupt war die Verständigung schwierig. Trotz seiner Nähe zur Antike hatte der Duncan-Clan es versäumt, Griechisch zu lernen, und unter den Bewohnern des Gelobten Landes war das Englische nicht eben verbreitet. Doch die Sprachschwierigkeiten fochten die Duncans nicht an. »Der Tanz ist elementar. Er ist die Sprache, die jeder versteht«, sagte Isadora. Als die fünf in Karvasaras (Amfilochia) an Land gingen und entzückt niederknieten, um den griechischen Boden zu küssen, sahen die Bootsmänner und die Leute am Strand einander höchst verwundert an. Man hatte ja schon manches von der anderen Seite des offenen Meeres, von Amerika, gehört, aber so verrückt hatte man sich die Einwohner dann doch nicht vorgestellt.
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