3.2 Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie
S.Freud teilte die psychische Entwicklung des Menschen triebtheoretisch in psychosexuelle Entwicklungsphasen ein: die orale Phase, die anale Phase, die phallisch-ödipale Phase, die Latenz sowie Pubertät und Adoleszenz. Jeder dieser Phasen ist die Aufgabe der Bewältigung spezifischer Konflikte aus der triebhaften Entwicklung sexueller und aggressiver Natur zugeordnet. Dabei geht es nicht allein um die Integration spezifischer Lust- und Unlusterfahrungen, die durch das Primat der jeweiligen körperlichen erotischen Zonen vermittelt werden. Vielmehr entwickeln sich auch psychosoziale Modi, die diesen sexuellen und aggressiven Triebbefriedigungen bzw. deren Versagung entsprechen: Aufnehmen und Empfangen, das Erleben von Versorgung, Geborgenheit und Sicherheit, aber auch Gier, destruktiver Neid etc. in der oralen Phase; Geben und Nehmen, Zurückhalten und Loslassen, Macht und Kontrolle, Expansionsdrang und Begrenzung von Grandiosität in der analen Phase; die Integration von Liebe und Hass, Rivalität und Ausschluss, die Anerkennung des Dritten etc. in der phallisch-ödipalen Phase.
Freud spricht von einer »zweizeitigen« sexuellen Entwicklung des Menschen: Die Bewältigung der frühkindlichen psychosexuellen Konflikte und die Integration von sexuellen Partialtrieben erfahren in der Pubertät mit der körperlichen sexuellen Reifung eine Neuauflage mit der endgültigen Einordnung der Partialtriebe unter dem Primat der genitalen Sexualorganisation, dem Finden eines (ganzheitlichen) außerfamiliären Sexualobjekts und damit der Ablösung von den primären Objekten. Unterbrochen wird diese Entwicklung von der Latenz, in der die frühen psychosexuellen Konflikte vorläufig zur Ruhe gekommen sind und sich das Kind mit Wissbegier der realitätsgerechten Erfassung der Welt zuwendet mitsamt der Reifung seines Realitätssinns, der kognitiven, körperlichen und kreativen Fähigkeiten.
Das Freud’sche Modell der psychosexuellen Entwicklung hat v. a. E.H. Erikson (1966) mit einem »epigenetischen Entwicklungsmodell« aufgenommen und erweitert. Zum einen beschrieb er die psychische Entwicklung des Menschen über Kindheit und Jugend hinaus bis ins Alter. Zum anderen bezog er die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft in seine Entwicklungstheorie mit ein. Auch Erikson geht von Phasen in der Entwicklung aus, denen er aber bestimmte »Entwicklungsaufgaben« zuordnet. Entwicklungsaufgaben bestehen in der Lösung phasenspezifischer Entwicklungskonflikte, wobei jedoch diese Konflikte in der jeweiligen Phase besonders hervortreten, in anderen Phasen aber implizit wirksam sind.
Im Unterschied zu entwicklungspsychologischen Konzeptionen von Entwicklungsstufen mit je spezifischen Entwicklungsaufgaben (z. B. Erikson 1966) geht A. Freud von Entwicklungslinien aus. Dabei misst A. Freud dem Ich große Bedeutung bei der Meisterung der Entwicklung bei. Entwicklungslinien beschreiben (chronologische und topische) Entwicklungsabfolgen bestimmter Bereiche der Triebentwicklung, der Ich-Entwicklung und der Über-Ich-Entwicklung, die gesondert betrachtet werden können:
Trieb
• Sexualtrieb: mit der Aufeinanderfolge der libidinösen Phasen: oral, anal-sadistisch, phallisch, Latenz, Vorpubertät, Pubertät, Genitalität
• Aggressionstrieb: i. d. R. weitgehend der Libidoentwicklung zugeordnet
Ich
• »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns« (Ferenczi 1913)
• von »primitiven« zu »reifen« Abwehrmechanismen
Über-Ich
• Aufeinanderfolge von Identifizierungen (Inkorporation – Introjektion – Identifizierung)
• fortschreitende Internalisierung der elterlichen Autorität
Intellektuelle Entwicklung
• gemäß den Erkenntnissen der akademischen Psychologie (z. B. Piaget)
Weitere Entwicklungslinien
• Nahrungsaufnahme
• Reinlichkeit
• Körperliche Hygiene/Pflege
• Beziehung zu Gleichaltrigen
• Spiel
• Abhängigkeit
• …
Anna Freud fasst in der Beschreibung von Entwicklungslinien die Sichtweise der Triebentwicklung und der Entwicklung von Objektbeziehungen zusammen. Entwicklungslinien unterliegen einer Wechselwirkung. In der Betrachtung der individuellen Entwicklung stellt sich die Frage, wie die einzelnen Entwicklungslinien zu einer gemeinsamen Wirkung zusammentreffen. Insgesamt findet eine fortschreitende Anpassung an die Außenwelt (äußere Realität) statt: von der Trieb- und Phantasiefreiheit zur Triebbeherrschung und Rationalität.
Entwicklungslinien sind als »latente Möglichkeit« vorgezeichnet. Ihre Abfolge und die Harmonie bzw. Disharmonie zwischen ihnen werden bestimmt durch die Außenwelt, in der frühen Kindheit durch (innere) Haltungen der Mutter, sowie durch Variationen von Regressionen. Sie verlaufen also nicht einfach linear, sondern eher in Regelkreisen zwischen Innen und Außen, Regression und Progression.
Neuere Sichtweisen in der Entwicklungspsychologie betonen den aktiven Beitrag des Individuums an seiner Entwicklung. Der Mensch verfügt von Geburt an über die Kompetenz, sich nicht allein dem psychischen Milieu seiner Beziehungsumwelt durch spezifische Bewältigungsmuster anzupassen, es formt und gestaltet dieses auch durch psychische Aktivität. Entwicklung lässt sich verstehen als ein intra- und interpsychischer Austausch. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass ein Kind auch die Entwicklung der Eltern, Großeltern und Geschwister prägt, auch die Peergroup, das soziale Milieu usw. spielen eine gewichtige Rolle. Nicht zuletzt setzt sich der Mensch auch von Beginn an mit seinem Körper bzw. dessen Repräsentanzen auseinander, ebenso mit seinen kognitiven Fähigkeiten und den Begegnungen mit der dinglichen Umwelt, schließlich ist die Verarbeitung elementarer Erfahrungen wie natürliche Begrenztheit, Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit entwicklungsprägend.
3.3 Die Neurosenlehre: Theorie über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen
Nach psychoanalytischem Verständnis bilden sich in der (lebenslangen) psychischen Entwicklung des Menschen psychische Strukturen, die auf basalen Fähigkeiten in der Wahrnehmung, Regulierung und Steuerung affektiver Zustände, des Selbst- und Objekterlebens, des Verhaltens und der Kommunikation beruhen (Strukturmodell). Diese Strukturen werden im Wesentlichen durch frühe Beziehungserfahrungen des Säuglings und Kleinkindes encodiert und bilden eine grundlegende Matrix für die Verarbeitung von Reizen aus innerem und äußerem Erleben.
Ein typisches Strukturmerkmal ist die Fähigkeit, bei Versagungen auf die sofortige Befriedigung eigener Wünsche zu verzichten und deren Erfüllung aufzuschieben. Die dabei auftretenden Affekte wie Ärger, Missmut, Wut können zwar gespürt und geäußert werden, werden aber im Wesentlichen als gesunde aggressive Energie kanalisiert, um in Auseinandersetzung mit der Umwelt realistische Wege zur Wunscherfüllung zu suchen.
Psychische Krankheit auf der Strukturebene entsteht, wenn bestimmte Funktionen dauerhaft unterentwickelt bleiben. Dies geschieht hauptsächlich aufgrund überwiegend defizitärer früher psychischer und interpersonaler Austauschprozesse, in denen basale Entwicklungsbedürfnisse nicht angemessen befriedigt werden konnten, sowie durch Traumatisierungen (Burchartz 2019c). Die Psyche greift dann als Schutz vor Desintegration zu Kompensationsvorgängen, die sich hauptsächlich in misslingenden sozialen Beziehungen, sexualisierten und/oder destruktiven Verhaltensweisen oder Grandiositäts- bzw. Minderwertigkeitsvorstellungen niederschlagen, oft begleitet von psychosomatischen Erkrankungen.
Von Beginn an ist das psychische Geschehen des Menschen aber auch von Kräften geprägt, die miteinander in Widerstreit treten (Konfliktmodell, vgl. Mentzos 1984, 2009). Entwicklung lässt sich – wie gezeigt – beschreiben als eine phasentypische Entfaltung und Bewältigung von Grundkonflikten zwischen antagonistischen intrapsychischen Strebungen einerseits sowie solchen zwischen primärprozesshaften Wünschen und Trieben und der äußeren Realität andererseits.
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