"Bleiben nur noch die Maibaums. Was geschah mit der Familie Maibaum? Stellen Sie sich vor, sie müssten einen ganzen Tag in einem Verschlag zubringen, einer licht- und einer schlecht belüfteten Nische, eingepfercht zu sechst, gepeinigt von Todesangst, immer damit rechnend, doch noch entdeckt zu werden. Diese Angst, die Menschen in den Wahnsinn treibt, die um ihr Leben zitternden Kinder. Was glauben Sie, wie es in der Enge dieses Gefängnisses zugegangen ist? Grauenvoll diese Vorstellung, einfach grauenvoll. Und dann ist die Gestapo mit ihrem kompletten Verein abgerückt. Unverrichteterdinge. So ein Aufmarsch bleibt ja nicht verborgen. Diese Strolche sind abgehauen ohne die Maibaums. Das ist nachgewiesen und schriftlich festgehalten. Die Familie Maibaum schien gerettet. Aber nun drohte eine andere Gefahr, nämlich die der Wohnraumbewirtschaftung. Ausgebombte Familien würden in das nun frei gewordene Anwesen der Maibaums einrücken und irgendwo mussten Maibaums bleiben. Doch daran dachte die gepeinigte Familie nicht. Sie dankte ihrem Gott für die Rettung. Und dann geschah etwas, dass sich niemand bis zum heutigen Tag erklären kann. Ein Bergungstrupp kam die Reichenberger Straße entlang, Soldaten, die nach Verschütteten suchten. Mit speziellem Gerät und mit Suchhunden. Plötzlich springt aus einem Kanalrohr nahe dem Landwehrkanal eine Ratte und rennt in das Maibaum-Haus. Ehe sich der Hundeführer versieht, reißt sich ein Schäferhund los und jagt der Ratte hinterher. Ein Tumult geht durch das Haus, der wie entfesselt bellende Hund, der rufende und Kommandos brüllende Soldat, und eine Gruppe feixender und lachender Kameraden, die dem Hundeführer hinterher stolperten, hinein in das Maibaum-Haus. Ob Schicksal oder Zufall, Bestimmung oder Tragik, der Hund rannte hinauf genau in die Wohnung, in der Sie jetzt wohnen und in der sich damals die Maibaum-Familie versteckte. Und war es nun wieder Schicksal, Bestimmung oder einfach der Instinkt des Tieres Verschüttete zu suchen und zu finden; der Hund kratzte und biss an der Holzplatte, sprang dagegen und war nicht zu beruhigen. Die nachfolgenden Soldaten waren ratlos, allein der Hund ließ nicht locker. Selbstverständlich hörten die Maibaums den Lärm, den unnachgiebigen Hund und die Worte der Soldaten. Aber noch einmal gewährte das Schicksal den Maibaums eine Frist, denn die Soldaten rückten ab und verließen die Wohnung. Schließlich waren sie angetreten um Verschüttete zu bergen, nicht aber um Ratten zu jagen. Als die Männer das Haus verließen wurden sie vom hinzukommenden Offizier in Empfang genommen, der sich in Begleitung eines Gestapo Mannes befand. Es hat wüste Beschimpfungen gegeben und die Androhung von Kriegsgericht wegen Plünderns, aber dann konnten die Soldaten das Geschehen aufklären und den Sachverhalt erläutern, dass nämlich der Hund einer Ratte nach sei, genau in das Maibaum-Haus bis in die oberste Etage ins Eckzimmer. Dort habe er sich vor eine Holzfüllung gestellt, hinter der die Ratte verschwunden sein muss und wie von Sinnen gebellt und an dem Holz herumgekratzt. Aber was soll hinter einer Holzverkleidung schon sein außer Mauerwerk. Und die Ratte hatten sie nicht mehr gesehen. So sei es gewesen. Plötzlich wurde der Gestapo-Mann hellhörig, schrie etwas von jüdischen Saboteuren die sich in dem Haus versteckt hielten und beorderte den Zug nochmals in die Maibaumsche Wohnung. Dann begannen die Männer die Holzverkleidung aufzureißen und fanden das Versteck mit der Maibaum-Familie. Noch am gleichen Tag gingen sie mit dem letzten Transport nach Auschwitz, wo sich ihre Spur verliert."
Herr Maschultke schwieg einen Moment und holte tief Luft.
"Das ist die Geschichte des Hauses in der Reichenberger Straße, die Geschichte der Familie Maibaum und einiger Personen, die mit dieser Familie irgendwie zu tun hatten. Die Gesichter, die Ihre Tochter im Traum sieht, das sind die angsterfüllten Antlitze der Kinder und ihrer Eltern, die ihre Todesangst nicht heraus schreien durften, denen aber letztlich ihr Schweigen in dieser Wandnische zum tödlichen Verhängnis wurde. Ihre Angst hat sich in den Balken, den Wänden und Decken dieses Hauses festgesetzt. Und ich sage Ihnen, Sie sollten aus diesem Haus ausziehen. Es ist besser für Sie und für Ihre Kinder. Das ist alles, was ich Ihnen dazu noch sagen kann. Es ist spät geworden, Zeit zum Schlafen, ich habe einen langen Tag morgen. Eine gute Nacht und kommen Sie gut nach Hause, wo immer das auch sein möge."
"Auf Wiedersehen - Herr Maschultke - auf Wiedersehen" stammelten wir bruchstückweise unseren Abschiedsgruß. Die Beine waren eingeschlafen, und in unseren Köpfen drehte sich die Geschichte einer Stadt, einer Familie, und wir hatten nur noch einen Wunsch, so schnell wie möglich in unsere Wohnung zu kommen zu unseren Kindern. Die Schorle schmeckte schal und bitter, ein Geruch von Moder hing in der Luft, und erst an der frischen Frühlingsluft fanden wir zu unserer vertrauten Gemeinsamkeit zurück. Meine Frau und ich sagten kein Wort. Stumm schritten wir rasch zur Wohnung in der Reichenberger Straße. Graumetallisch schimmerte das Wasser des Landwehrkanals, aus dessen Fluten vor vielen Jahrzehnten das Schicksal den Sendboten des Todes in Gestalt einer Ratte in das Haus der Familie Maibaum sandte. Noch im gleichen Monat bat ich meine Firma um Versetzung in die Bundesrepublik, und schon im Juni desselben Jahres zogen wir fort aus Berlin, der Reichenberger Straße und aus dem Haus, das einstmals der Familie Maibaum gehörte, einer jüdischen Berliner Familie, die für viele Menschen so viel getan hat, für sich jedoch keinen Weg zur Rettung fand. Wir haben die Reichenberger Straße nie mehr wieder gesehen.
Die Geister treten aus ihrem Schatten heraus und kommen näher.
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