Geschichten aus der Murkelei
Geschichten aus der Murkelei
Kindergeschichten
© 1947 by Hans Fallada
© Lunata Berlin 2020
Lieber Uli, liebe Mücke und lieber kleiner Achim! Lieber Uli, liebe Mücke und lieber kleiner Achim! Zuerst habe ich euch diese Geschichten mündlich erzählt, damit das Essen besser rutschte und nicht so langweilig war. Aber die Geschichten wurden bei jedem Erzählen anders, und das gefiel euch nicht, da mußte ich sie aufschreiben. Die aufgeschriebenen Geschichten konnte euch nur einer vorlesen, nämlich ich, weil kein anderer mit meiner Schrift zurechtkam. Da mußte ich euch die Geschichten auf der Maschine tippen. Das Getippte konntet ihr, Uli und Mücke, nun schon allein lesen, aber da ging der kleine Achim leer aus. Und Getipptes in einem Schnellhefter liest sich auch nicht so gut wie ein gedrucktes Buch. Da sagtest du, Uli: »Du läßt ja so viele Bücher von dir drucken, Papa, da kannst du auch diese Geschichten drucken lassen!« So reisten die Geschichten nach Berlin. Dort wurden sie erst andern Kindern zum Lesen gegeben und auch großen Leuten, damit wir bestimmt wußten, es waren richtige Kindergeschichten. Dann, als alle ja gesagt hatten, wurden sie gedruckt. Da sagtet ihr Kinder: »Aber es müssen auch Bilder dabei sein, sonst ist es kein richtiges Kinderbuch!« Nun gingen wir suchen, und schließlich fanden wir den Conny. Der machte die Bilder, genau wie ihr sie euch dachtet. So war alles beisammen, und das Buch wurde fertig! Und wenn ihr jetzt nicht eßt wie der dicke Onkel Willi, dann nehme ich euch auf der Stelle das Buch wieder weg! Da habt ihr's –!
Geschichte von der kleinen Geschichte
Geschichte vom Mäuseken Wackelohr
Geschichte vom Unglückshuhn
Geschichte vom verkehrten Tag
Geschichte vom getreuen Igel
Geschichte vom Nuschel-Peter
Geschichte vom Brüderchen
Geschichte vom goldenen Taler
Geschichte vom unheimlichen Besuch
Geschichte von der gebesserten Ratte
Geschichte von der Murkelei
Lieber Uli, liebe Mücke und lieber kleiner Achim!
Zuerst habe ich euch diese Geschichten mündlich erzählt, damit das Essen besser rutschte und nicht so langweilig war.
Aber die Geschichten wurden bei jedem Erzählen anders, und das gefiel euch nicht, da mußte ich sie aufschreiben.
Die aufgeschriebenen Geschichten konnte euch nur einer vorlesen, nämlich ich, weil kein anderer mit meiner Schrift zurechtkam. Da mußte ich euch die Geschichten auf der Maschine tippen.
Das Getippte konntet ihr, Uli und Mücke, nun schon allein lesen, aber da ging der kleine Achim leer aus. Und Getipptes in einem Schnellhefter liest sich auch nicht so gut wie ein gedrucktes Buch.
Da sagtest du, Uli: »Du läßt ja so viele Bücher von dir drucken, Papa, da kannst du auch diese Geschichten drucken lassen!« So reisten die Geschichten nach Berlin. Dort wurden sie erst andern Kindern zum Lesen gegeben und auch großen Leuten, damit wir bestimmt wußten, es waren richtige Kindergeschichten. Dann, als alle ja gesagt hatten, wurden sie gedruckt.
Da sagtet ihr Kinder: »Aber es müssen auch Bilder dabei sein, sonst ist es kein richtiges Kinderbuch!«
Nun gingen wir suchen, und schließlich fanden wir den Conny. Der machte die Bilder, genau wie ihr sie euch dachtet.
So war alles beisammen, und das Buch wurde fertig! Und wenn ihr jetzt nicht eßt wie der dicke Onkel Willi, dann nehme ich euch auf der Stelle das Buch wieder weg!
Da habt ihr's –!
Geschichte von der kleinen Geschichte
Es war einmal ein Kind, das war nicht artig und wollte sein Essen nicht essen. Da stellte es die Mutter zur Strafe vor die Tür und fing an, drinnen den artigen Kindern eine kleine Geschichte zu erzählen.
Als das unartige Kind nun merkte, drinnen erzählte die Mutter, brüllte es ein wenig leiser, denn es wollte horchen und hätte gerne zugehört. Da rief die Mutter: »Willst du jetzt artig sein und gut essen, Kind, so darfst du bei meiner kleinen Geschichte zuhören.«
Doch der Bock stieß das Kind noch, und als es die Mutter rufen hörte, fing es gleich wieder an, lauter zu brüllen, so gerne es auch die kleine Geschichte gehört hätte. Da fuhr eine Maus aus ihrem Loch und fragte: »Was machst du denn für ein Geschrei, Kind? Meine jungen Mäuslein verschlucken sich ja vor Schreck beim Speckessen.«
Das Kind antwortete und sprach: »Meine Mutter hat mich vor die Tür gestellt und will mich ihre kleine Geschichte nicht hören lassen. Darum, wenn du willst, daß deine Kinder in Ruhe Speck essen, schlüpfe durch einen Mäusegang ins Esszimmer und erzähle mir, was für eine kleine Geschichte meine Geschwister hören.«
Die Maus tat, wie das Kind gesagt hatte, fuhr durch einen Mäusegang ins Esszimmer und horchte. Die Mutter aber, die hörte, daß das Kind still geworden war, rief durch die Tür: »Willst du jetzt artig sein und essen, Kind?«
Das Kind dachte bei sich: ›Gleich kommt die Maus und erzählt mir die kleine Geschichte, da brauche ich auch nicht artig zu sein‹, und fing wieder lauter an zu brüllen. Als das Kind eine Weile gebrüllt hatte und die Maus noch immer nicht wiederkam, dachte es: ›Es ist doch sonderbar, daß die Maus so lange ausbleibt, das muß ja eine ganz herrliche Geschichte sein, daß sie das Wiederkommen so ganz vergißt. Ich will einmal die Fliege dort am Fenster schicken, daß sie nach dem Rechten sieht.‹
Das Kind rief also die Fliege an und sagte: »Liebes Fräulein Krabbelbein, ich habe die Maus ins Esszimmer geschickt, daß sie auf die kleine Geschichte hört, die meine Mutter meinen Geschwistern erzählt. Aber die Maus kommt gar nicht wieder – willst du da nicht so freundlich sein und durchs Schlüsselloch kriechen und einmal nach dem Rechten sehen? Ich gebe dir auch morgen früh meinen Zucker, den ich zum Kakao bekomme.«
Die Fliege war einverstanden, kroch durchs Schlüsselloch und verschwand. Die Mutter aber, die hörte, das Kind brüllte nicht mehr, rief durch die Tür: »Willst du jetzt artig sein und essen, Kind?«
Das Kind dachte: ›Gleich kommen die Maus und die Fliege wieder und erzählen mir die kleine Geschichte, da brauche ich nicht artig zu sein!‹ Und es schrie: »Nein, nein, ich will nicht essen!« und brüllte noch lauter.
Als es aber eine Weile gebrüllt hatte, wunderte es sich, daß weder Maus noch Fliege wiederkamen, und dachte bei sich: ›Was muß das doch für eine wunderbare Geschichte sein! Mäuslein vergißt ihre Kinder, Krabbelbein denkt nicht an ihren Zucker – nein, jetzt mache ich nur noch einen Versuch, und wenn ich dann auch nichts erfahre, will ich gewiß artig sein und essen, damit ich nur die kleine Geschichte höre.‹
Es rief also eine Ameise an, die gerade auf der Diele kroch, und sagte: »Fräulein Schmachtleib, Sie sind dünn, sicher können Sie unter der Tür durchkriechen. Tun Sie das doch mal und sehen Sie im Esszimmer nach, was da eigentlich die Maus und die Fliege machen, die ich geschickt habe, die kleine Geschichte zu hören, die meine Mutter meinen Geschwistern erzählt. Kommen Sie aber bloß schnell wieder. Ich halte es vor lauter Neugierde schon nicht mehr aus.«
Die Ameise sprach: »Den Gefallen will ich dir wohl tun«, kroch unter der Tür durch und verschwand. Die Mutter aber, die hörte, das Kind brüllte nicht mehr, rief durch die Tür: »Komm doch bloß schnell, Kind, sei artig und iß. Es gibt jetzt etwas ganz Feines!«
Das Kind aber dachte: ›Die Ameise wird mir jetzt Maus und Fliege schicken, da werde ich die kleine Geschichte schon zu hören bekommen.‹ Und es schrie: »Ich will gar nichts essen – auch nichts Feines!« trampelte mit den Füßen und brüllte noch lauter als vorher.
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