"Was ist das - hörst du es auch, das kommt aus Bernadettes Zimmer. Mein Gott, das Kind hat wieder diese schrecklichen Träume!"
Laut und stoßweise rief meine Frau diese Worte in die spärlich beleuchtete Atmosphäre unseres Schlafzimmers, und wie auf ein geheimes Signal hin stimmte Beatrix, aufgeschreckt aus ihrem Schlummer, in das Konzert nächtlicher Beunruhigung ein.
"Ist schon gut, ich schau nach - das sind bestimmt diese blöden Flugzeuge. Wieso dürfen die hier nachts über die Stadt fliegen. Wo Millionen Menschen leben? Unglaublich."
Ich bemühte mich dem Tonfall meiner Worte ein wenig Entrüstung zu verleihen, aber die rechte Überzeugung wollte sich nicht einstellen. Raschen Schrittes erreichte ich das Zimmer unseres Kindes, und als ich die Tür zu Bernadettes Schlafraum öffnete, erschrak ich beim Anblick des Mädchens derart, dass ich laut nach meiner Frau schrie, worauf diese wie ein Wirbelwind herbeieilte, zum Bett von Bernadette stürzte und ihr Kind liebevoll und beschützend in ihre Arme nahm. Aber so sehr sich meine Frau auch mühte, unsere Tochter streichelte, liebkoste, mit ihr leise und einschläfernd sprach, nichts konnte den gestörten Nachtschlaf Bernadettes retten, geschweige denn sie umstimmen.
"Mama - Mama - überall sind Gesichter - da in der Wand - so schlimme Gesichter - viele Köpfe sind da, so viele Köpfe. Sie weinen und schreien - Mama - ich habe solche Angst."
Meine Frau und ich brachten in dieser Nacht kein Auge mehr zu, dafür schlief unsere Tochter im ehelichen Bett wie in Abrahams Schoß. Auch Beatrix besann sich kurzfristig eines Besseren und stellte ihr solidarisches Geschrei auf schmatzendes Mümmeln um, als meine Frau ihr kurzerhand die Brust in den Mund steckte. Die nächsten Tage verbrachte mein Eheweib mit Bernadette bei diversen Kinderärzten in Berlin, aber trotz aller Bemühungen gelang es nicht, die Ursachen für das Verhalten unserer Tochter zu ergründen.
"Vielleicht liegt es an den Tapeten, das Muster ist schon beeindruckend. Diese riesigen Blumen, da kann ein Kind schon die eine oder andere geistige Verbindung herstellen. Was wissen wir Erwachsenen schon von der Vorstellungswelt eines Kindes? Allein unsere eigenen Erinnerungen geben uns einen winzigen Einblick in die Beweglichkeit kindlicher Fantasie. Und im vergangenen Jahr war es genauso - sagen Sie? Und wie war es davor - haben Sie dieses Verhalten schon vorher beobachtet?"
Wir verneinten die Fragen der Kinderärztin, versprachen aber für eine neue Tapete zu sorgen, die schon wenige Tage nach diesem nächtlichen Albtraum durch einen örtlichen Malermeister aufgeklebt wurde.
"Ist die schön" rief Bernadette immer wieder aus, "ist die schön".
Das fanden wir auch und waren mehr als erfreut über die wohlwollende Anerkennung unserer Tochter. Allmählich normalisierte sich unser Familienleben, und bald dachte niemand mehr an diese schlimme Nacht im April zurück. Auch Bernadette hatte allem Anschein nach diesem unerfreulichen nächtlichen Ereignis aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie schlief fest und ruhig, was uns mehr als befriedigte. In den meisten Fällen werden familiäre Vorgänge dieser Art in absehbarer Zeit zum Gespräch der Nachbarschaft, sei es durch einen selbst, durch die Ehefrau oder durch wohlmeinende Nachbarn oder Schwiegereltern. In unserem Fall kam sicher alles zum Tragen, denn auf einem ihrer Einkäufe in die naheliegenden Geschäfte, wurde meine Frau von einer gleichaltrigen Dame angesprochen, die offensichtlich ein gesteigertes Bedürfnis an einem Gespräch hatte, wobei sicherlich die Neugier die eigentliche Triebfeder ihrer Frage war.
"Wie geht es denn Bernadette, ihrer Tochter? Ich hoffe doch gut. Nach allem was mir mein Sohn erzählt hat. Sie müssen wissen, mein Sohn und ihre Tochter, die gehen beide in dieselbe Klasse. Ist ja schrecklich für ihr Kind immer solche fürchterlichen Träume zu haben. Mein Mann meint, das hängt bestimmt mit dem Haus zusammen. Da soll während des Krieges was ganz Schlimmes passiert sein. Aber genaues weiß ich auch nicht, bin ja erst in den Fünfzigern geboren. Na ja, ich wünsche Ihnen und Bernadette jedenfalls alles Gute. Vielleicht sehen wir uns ja mal beim Elternsprechtag."
Meine Frau stand wie verdattert und wusste ihre Gedanken kaum zu ordnen, als Herr Maschultke, der Inhaber des Ladens, nachdem die mitteilsame Dame gegangen war, sich an meine Frau wandte.
"Entschuldigen Sie, es geht mich ja nichts an, habe nur eben zufällig das Gespräch mit angehört. Wohnen Sie hier in der Nähe. Vielleicht in der Reichenberger Straße?"
Flackernd beobachteten die Augen des alten Mannes meine Frau, und als diese bejahte und ihm noch den genauen Wohnort nannte, nämlich Ecke Lausitzer Straße, da zuckte es im Gesicht des Ladenbesitzers und er stöhnte laut, wobei er seinen Atem ausblies.
"Ja, ja - der alte Maibaum. So eine liebenswerte Familie. So nette Leute - wie konnten wir das nur zulassen? Schrecklich - einfach schrecklich."
"Wer ist Maibaum und was ist schrecklich" fragte meine Frau, aber der alte Maschultke winkte nur ab.
"Es ist das Beste, wenn Sie umziehen in eine andere Wohnung. Ihre Tochter wird niemals Ruhe finden in diesem Haus. Niemand der diese Zeit erlebt hat, wird jemals zu Ruhe kommen. Glauben Sie mir, es wird mit jedem Jahr schlimmer werden. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun."
"Nein - nein Herr Maschultke, so einfach ist das nicht. Wir wohnen in diesem Haus, und unsere Tochter hat schreckliche Albträume - aber nur im April. Dann ist es wieder vorbei. Sie wissen anscheinend mehr über dieses Haus als Ihnen lieb ist. Und nun sagen Sie mir bitte, wer ist Maibaum? Bitte - unser Kind soll nicht länger leiden!"
"Ich weiß doch nichts, nicht mehr als all die anderen hier. Hätte ich Ihnen doch bloß nichts gesagt. Jetzt habe ich den Ärger und Sie wollen eine Antwort. Dann kommen Sie in Gottes Namen heute Abend zu mir, schellen Sie zweimal, ich werde öffnen. Und bringen Sie Ihren Mann mit, sonst glaubt er Ihnen vielleicht nicht. Und nun gehen Sie bitte, ich muss mich um meine Kunden kümmern."
Zwischen Hoffen und Bangen verließ meine Frau den Kramladen und eilte unserer Wohnung entgegen. Die wildesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was konnte denn so Schreckliches geschehen sein, damals in den Kriegsjahren? Vielleicht sind dort Leute bei einem Bombenangriff umgekommen? Aber dann würde das Haus nicht mehr stehen oder zumindest neu gebaut sein. Es war ein altes Haus, in dem wir unsere Wohnung besaßen, ein Haus, gebaut um die Jahrhundertwände von wohlhabenden Leuten. Wer sich damals so ein Gebäude leisten konnte, der hatte viel Geld. Nein, das war es sicher nicht. Eine Bluttat, ein Mord, war es das? Meine Frau schauderte bei dem Gedanken, dass möglicherweise im Kinderzimmer unserer ältesten Tochter ein Mensch auf gewaltsame Weise um sein Leben gebracht wurde. Jedenfalls ist in unserer Wohnung etwas geschehen, das bis zum heutigen Tage seine Spuren hinterlässt und Bernadette solche Albträume beschert. Und was hat es mit diesem Maibaum auf sich? Der alte Maschultke nannte diesen Namen. Waren das vielleicht die Vormieter oder gar Besitzer dieses Hauses? Wie dem auch sei, wir werden es heute Abend erfahren.
"Und du meinst, dass Herr Maschultke uns erklären kann, warum Bernadette diese Träume hat? Was hat er genau gesagt? Wir sollten am besten die Wohnung verlassen und uns eine andere Bleibe suchen. Wie stellt der sich das vor - hier in Berlin? Nur weil vor dreißig oder vierzig Jahren in dieser Wohnung oder diesem Haus etwas Schlimmes geschah sollen wir verschwinden?"
"Dann müssten viele Häuser und Wohnungen geräumt werden, das kannst du mir glauben. Aber vielleicht ist es ja ganz nützlich mit dem alten Maschultke zu sprechen. Warten wir es also ab."
"Ich bin sicher, dass er uns wichtige Dinge zu sagen hat, Dinge, von denen wir bisher keine Kenntnis hatten und die ganz sicher für Bernadettes Verhalten verantwortlich sind. Wir werden sehen, was uns Herr Maschultke zu sagen hat."
Читать дальше