„Es ist geschafft, gleich landen wir an“ rief der Steuermann gegen den Wind und die schäumende Flut an.
Die Männer im Schiff atmeten auf und frohlockten ob der sicheren Obhut, die sie gleich empfangen würde. Schon erkannten die Fahrensmänner die Gesichter der Wachen, die ihnen durch die Nacht mit hellen Tüchern zuwinkten, ein bestimmtes Signal, das zu jeder Fahrt geändert wurde, um dem Feind keine Möglichkeit zu geben, die Festungsmannschaft zu attackieren. Was dann geschah konnte später niemand mehr genau beschreiben, weil es zum einen Nacht war und zum anderen sehr schnell ging. Das Schiff muss auf eine neu entstandene Untiefe geraten sein; Sand, Geröll und Treibgut mischte der brodelnde Strom zu gefährlichen Barrieren auf; der Lastkahn fuhr sich fest, stellte den Rumpf quer, der sich nun, angeschoben durch die gewaltigen Wassermassen, wie ein großer Baumstamm aus der Flut erhob. Ein Schreien und Brüllen setzte ein, Befehle wurden erteilt, die niemand mehr befolgen konnte oder wollte. Das gesamte Schiff drehte sich krachend und splitternd um sich selbst, der rotbraune Kiel mit Schiffsboden schimmerte für einen kurzen Moment im fahlen Mondlicht, und nur wenige Augenblicke später war vom Schiff, von der Ladung und der Besatzung nichts mehr zu sehen. Nur das grässliche Schreien der Ertrinkenden hallte über die erbarmungslosen Fluten dahin, bis es in der Finsternis erstarb. Das liegt mehr als 350 Jahre zurück und war sicher ein tragisches Ereignis. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Besuchen sie das Dörfchen Schenkenschanz auf der heutigen Halbinsel im Rheinstrom bei Kleve. An schönen Sommertagen ein idyllischer Ort, der die Sorgen des Alltags im Handumdrehen vergessen macht. Doch wenn die Frühlingshochwasser kommen, die ganz Großen, Mächtigen, die alles Verschlingenden – dann sollten Sie tunlichst Ihren Fuß nicht auf die Schenkenschanz setzen. Von den mächtigen Mauern des Bollwerks ist nichts mehr zu sehen, es wurde im 19.Jahrhundert geschleift. Aber wenn sich die Geschehnisse jener Maitage jähren, sich in einem jener mörderischen Frühlingshochwasser verdichten, dann erhebt sich die alte Festung wie von Geisterhand getrieben aus den schäumenden Fluten – wie damals in jener dunklen Nacht, die dem Schiff und seiner Besatzung zum Verhängnis wurde. Sollte es Sie aber doch auf die Insel verschlagen, dann lauschen Sie in der Nacht den Stimmen des Stromes. Es sind nicht nur die Einheimischen, die das klagende Hilfegeschrei der Ertrinkenden vernehmen. Die aufgewühlten Fluten spülen die Seelen der Spanier vom Grund des Flusses an die Oberfläche – wo sie vergebens um Rettung und Erlösung rufen.
Morituri te salutante - die Todgeweihten grüßen dich.
Es gibt Erfahrungen im Leben eines Menschen, einer Familie, eines Volkes die so elementar und aufwühlend sind, dass es Jahre, ja mitunter Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte braucht, sie zu verstehen und zu begreifen. Dabei muss es nicht ein verheerender Krieg, eine Katastrophe oder ein anderes großes Unheil sein. Zuweilen versteckt sich die mahnende Erinnerung als Ausdruck grenzenloser Angst und unfassbaren Leids hinter einer unscheinbaren Tapete, besser gesagt hinter einer Trennwand, auf der das vorbenannte Papier als verschönender Raumschmuck vor vielen Jahren aufgeklebt wurde. Die Geschichte, welche ich hier erzähle, ist wahr, so wahrhaftig wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht und wir nur ein unbedeutendes Sonnensystem sind in einer gewaltigen Galaxie. Aber all zu oft verbirgt sich das wirklich Große, das Bedeutende - aber auch das Tragische und Verhängnisvolle, in den weniger beeindruckenden Arrangements unserer Vorstellungswelt von Sein und nicht Sein. Doch lassen Sie mich zum eigentlichen Kern meiner Erzählung kommen, die, so hoffe ich, Ihnen ein wenig mehr den Sinn schärft für jene Dinge, die unsichtbar, kaum wahrnehmbar, dabei doch mit aller Gewalt vorhanden und die Geschicke der Menschheit lenkend, unseren täglichen Lebenslauf bestimmen. Alles nahm seinen Anfang im Berlin der ausgehenden Sechziger und beginnenden Siebziger Jahre. Als Student der Betriebswirtschaft gehörte ich wie selbstverständlich zu jener berühmt-berüchtigten Generation, die sich mit Brachialgewalt von ihrer altehrwürdigen, vermufften und mit überkommenen Vorurteilen gesegneten Elterngeneration trennten und den Staat - so damals einhelliger Tenor - an den Rand des Bürgerkriegs führten. Heute wissen wir alles viel besser, wie schon so viele Generationen vor uns im Nachhinein alles besser wussten, und haben uns entsprechend arrangiert. Trotz aller Schwierigkeiten, wenn ich diesen mehr als unsere, der Studenten wirkliche Lage betreffenden Zustand entschärfenden Begriff verwenden darf, gelang uns, und damit auch mir, der relativ unbeschadete Eintritt in die tags zuvor noch verdammte kapitalistische Wohlstandsgesellschaft, die mir und meinen Mitkommilitonen meine theoretischen und praktischen Ausflüge ins Che Guevara- und Ho-Tschih-Minh Lager nicht Übel nahmen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass mir meine Arbeitgeber und Kollegen ganz besonderen Respekt entgegenbrachten, hatten wir uns doch auch für die Belange der Arbeitnehmer vehement eingesetzt. In mir keimten Empfindungen, die sich durchaus mit denen eines Samurai vergleichen ließen, jedenfalls theoretisch. Aber das nur als Anmerkung, ich möchte Sie nun auf den eigentlichen Pfad meiner Erzählung zurückführen, denn sicher sind Sie begierig darauf zu erfahren, was nun in Berlin geschah, und vor allem was mit mir geschah. Da meine lukrative Einkommensaussicht auf längere Zeit gesichert schien, widmete ich während meiner nicht gerade üppig bemessenen Freizeit mein Augenmerk den Schönheiten Berlins, nicht nur den Baulich-Kulturellen, sondern auch den Weiblichen. So ergab sich fast zwangsläufig die Bekanntschaft mit einer reizenden Wannseeschönheit, aus der sich eine intensive, leidenschaftliche Beziehung entwickelte, die im Hinblick auf die anderen Umstände, in der sich meine Angebetete plötzlich befand, zu rascher Heirat drängte, was dann auch geschah. Ich habe diesen Schritt bis heute nicht bereut, das sei nur am Rande erwähnt und auch als Trost für all diejenigen die glauben, dass nach ungezählten Ehejahren nichts mehr übrig ist von jener Leidenschaft, die in schwül-heißen Sommernächten der Liebe Glut wallende Gewänder umlegt. Sie ist noch da und es liegt nur an uns selbst, sie von Zeit zu Zeit neu zu entdecken. An einem wunderschönen Augusttag schenkte mir meine junge Frau ein bezauberndes Mädchen, und es gab an diesem Tag nichts Größeres auf der Welt als den Augenblick, als ich unser Kind zum ersten Mal sehen durfte. Anfassen traute ich mich diesen rosigen Wurm nicht, denn ich befürchtete ihn ob dieser Berührung zu zerbrechen. Später bekam ich dann unverhofft und ungewollt Einblick in die Babystation, und von da an hatte ich wesentlich mehr Vertrauen in die Überlebensfähigkeit von Neugeborenen, die sich energisch und lautstark den Zugriffen der Säuglingsschwestern widersetzten. Nachdem nun meine Frau mit unserem Kind aus der Klinik entlassen wurde stellte sich die Frage, wie eine optimale Unterbringung dieser auf drei Personen angewachsenen Intimorganisation, so nannten wir unsere Familie in jenen Tagen, unterzubringen sei. Nach Studium der einschlägigen Zeitungen und unter selbstloser Hilfe eines Kollegen gelang es uns kurzfristig, eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg zu bekommen. Bei dieser Wohnung handelte es sich um die Hinterlassenschaft eines ehemaligen kaiserlichen Offiziers, der sich den damaligen Verhältnissen entsprechend großbürgerlich und damit klassizistisch etablierte. In einem Haus in der Reichenberger Straße, unweit des Landwehrkanals, als Eckhaus zur Lausitzer Straße gebaut, bezogen wir in der ersten Etage zu beiden Seiten unsere Wohnung, und ich muss sagen, dass mir bis dahin jegliche Vorstellung darüber fehlte, wie die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden Neunzehnten und beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts zu leben und vor allem zu residieren pflegte. Die angemieteten Räumlichkeiten maßen über alles mehr als Einhundertfünfzig Quadratmeter und das zu einem Preis, der mehr als freiwillige Spende Berechtigung finden könnte, geschweige denn als Mietsumme. Wie dem auch sei, wir waren mehr als froh über unser neues Heim, wenn sich auch die drei Menschlein in diesem Irrgarten der Räume hoffnungslos verloren. Eingangs der Wohnung schloss sich ein in der Unendlichkeit verlierender Korridor oder Flur an, was der Wohnung einen Hauch von lebendiger Vergangenheit, aber auch eine, in leichtem Anflug unerklärliche, ein wenig unheimliche Ausstrahlung verlieh. Seltsamerweise gestand mir meine Frau noch am gleichen Abend, der erste übrigens in unserer gemeinsamen Wohnung, dass sie sich vor diesem langen Korridor fürchtete. Ich versprach mein Bestes zu tun, um unser trautes Heim so anheimelnd wie möglich zu machen. Neue Tapeten, neue Lampen, frische Farben, viel Licht überall, besonders im Korridor, was meiner Angebeteten und Mutter meiner Tochter sehr gefiel. Zur rechten und linken des Korridors lagen die großzügig bemessenen Zimmer der Wohnung, eine Küche, ein Wohnzimmer, Schlaf- und Kinderzimmer sowie ein Zimmer für das Hausmädchen, das wir uns aus menschlichen, weniger aus finanziellen Gründen nicht halten wollten. Meine Frau verabscheut die Sklaverei. Darüber hinaus gab es noch ein Badezimmer, das von der Ausgestaltung und Größe her einer mittleren Badeanstalt Konkurrenz machen konnte. In der Küche befand sich neben einem mächtigen Herd, zu beheizen mit Kohle, Holz und anderen festen Brennstoffen, noch der Heizkessel, der für das warme Wasser im Haushalt zuständig war. Klugerweise hatten sich die Baumeister beim Einbau damals für die Nordseite entschieden, so dass auch in heißen Sommern der Aufenthalt in der Küche erträglich war. Zur Freude meiner Frau entdeckten wir neben dem Herd, gut getarnt durch eine übertapezierte Tür, die Speisekammer, die uns während unserer Anwesenheit in dieser Wohnung gute Dienste leistete. Bernadette, so nannten wir unsere Tochter, bezog das ihr gemäße Kinderzimmer auf der Ostseite, durch dessen Fenster die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen und ihr das Aufwachen, nicht jedoch das Aufstehen leichter machten. Im Gegensatz zu allen anderen Zimmern erschien uns das Kinderzimmer kleiner als die verbleibenden Räume, was uns aber im Hinblick auf die Gesamtgröße der Wohnung nicht störte. Bernadette verfügte über mehr Platz zum Spielen und Toben als andere gleichaltrige Kinder, und so liefen die ersten ehelichen Jahre mit all ihren Höhen und Tiefen doch recht sorglos an uns vorbei. Es gab die eine oder andere Kinderkrankheit, was ganz normal ist, es gab die ersten Querelen im Kindergarten. Irgendwann mussten wir uns an die Tatsache gewöhnen, dass unsere Tochter Bernadette kein Säugling mehr war, sondern ein Kind von sechs Jahren, das sehr selbstbewusst nicht nur durch unsere Wohnung tollte. Eigentlich waren wir mit der Entwicklung sowohl wirtschaftlich, mein Einkommen entsprach dem damaligen Niveau gut dotierter Diplomstellen, als auch familiär, wir erwarteten unser zweites Kind, sehr zufrieden. So maßen wir den anfänglichen, nächtlichen Störungen durch Bernadette keine übermäßige Bedeutung zu, beruhigte uns doch die seit Jahren bekannte Kinderärztin mit den Worten, dass es für Kinder dieses Alters durchaus normal sei, unruhige Träume zu haben. Hinzu käme noch die Schwangerschaft meiner Frau, die auf ein Kind doch gewisse Einflüsse ausüben konnte. Wir sollten uns nicht weiter sorgen und den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Würde es widererwarten aber zu einer Steigerung des nächtlichen Unruheverhaltens unserer Tochter kommen, so stünde sie uns jederzeit zur Verfügung. Meine Frau und ich begnügten uns mit dieser Erklärung, die uns im Hinblick auf die wissenschaftliche Begründung plausibel und glaubwürdig erschien. Im weiteren Jahresablauf gab es keine beunruhigenden nächtlichen Attacken mehr, und die ganze Angelegenheit geriet in Vergessenheit. Bernadette wurde eingeschult und entwickelte sich gemäß den elterlichen Erwartungen, die alle Mütter und Väter auf der Welt in ihre Kinder setzen, recht gut. Das Jahr ging zur Neige, die bekannten Festlichkeiten standen vor der Tür, und unsere Tochter bekam nicht nur zum Weihnachtsfest reichlich Geschenke von der allseits hofierten Verwandtschaft, sondern noch ein Geschwisterchen dazu, unsere zweite Tochter Beatrix, die schon nach wenigen Tagen ihre große Schwester Bernadette an Lautstärke und Lebendigkeit übertraf, was uns nicht immer in euphorische Stimmung versetzte. Das neue Jahr kam, die Zeit verflog wie im Wind, meine Tätigkeit bei einem bedeutenden Baumaschinenhersteller wurde zur Unentbehrlichkeit deklariert, was mir einerseits schwindelerregende Einkünfte bescherte, andererseits in regelmäßigen Abständen die der Familie zugedachten Wochenenden versauerte, musste ich doch ein über das andere Mal meine heiligen Zusagen brechen und wohl oder übel meinem hohen Boss untertänig sein. Der April des Jahres 1974 ging in die Geschichte unseres Familienlebens ein wie die Geburtstage unserer Kinder. Genau war es der Achtzehnte April des genannten Jahres, ein Freitag, als sich in der Nacht folgendes ereignete. Lautes Weinen und Jammern erscholl kurz vor Elf Uhr abends aus dem Zimmer unserer Tochter Bernadette. Da sich das eheliche Schlafzimmer entgegengesetzt auf der anderen Seite des langen Korridors befand, vermischten sich die klagenden Rufe des Kindes mit den letzten Starts und Landungen von Flugzeugen aus aller Herren Länder, denen durch Sondergenehmigungen die Erlaubnis zur nächtlichen Überfliegung Berlins gestattet wurde. Die an unserer Wohnung vorbeiführende Ausfallstraße tat ihr übriges, und aus diesem Grund blieb die Tür unseres Schlafgemachs an diesen Freitagen stets geschlossen. Allein der mütterliche Instinkt meiner Frau, ihre ausgeprägte Sensibilität im Umgang mit den Kindern und auch meine ungewöhnliche Unruhe, ließen uns fast gleichzeitig erwachen. Beatrix, die Jüngste in unserem Kreis, bekundete keinerlei Interesse am Geheul ihrer großen Schwester und schlief den Schlaf der kindlichen Unschuld.
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