Madame Sparvs oberes Zimmer war nun nur noch von einer einzigen Wandleuchte über dem Tisch und dem schwachen roten Feuerschein aus der Ofenklappe erhellt. Ich trank mein Glas in einem Zug aus. »Die weiße Welt – war das Ihre erste Vision?«
»Weiß sehe ich immer als Erstes, es kommt vor der Vision«, sagte sie und rieb sich bei dieser Erinnerung beklommen die Hände. »Als ich wieder zu mir kam, hielt mich mein Vater im Arm, und die Wirtin drückte mir ein Tuch auf die Stirn, das sie in kaltes Wasser getaucht hatte. Der Koch hielt sich so weit von mir entfernt, wie er nur konnte, und als er seinen Teig ausrollte und sein Gebäck formte, zitterten seine Hände. Er wollte nicht in meine Nähe kommen, nicht einmal als mein Vater ihn bat, ihm zu helfen, mich die Treppe hinaufzutragen. Ich war zwar benommen, sagte aber zu meinem Vater, dass ich allein gehen könne, und füllte meine Lungen mit frischer Luft. Mein Vater war überzeugt, dass ich aus purer Aufregung ohnmächtig geworden war, doch als wir uns dem Riddarfjärden näherten, kam das gleißende Weiß wieder. Dieses Mal folgte eine Vision. Ich sah Wasser, glänzendes, rotschwarzes Wasser, und einen Konvoi Schiffe, der mit der Ebbe auslief. Die hohen, dunklen Masten zeichneten sich vor dem dämmernden Himmel ab, das Schlagen der Segel, als sie gefiert wurden, vertrieb einen Schwarm Möwen von den hohen Spieren und Wanten. Sie flogen vorwurfsvoll kreischend in einem Bogen vor rosigen Wolken vorbei und ließen mit ihren Flügelschlägen Wind aufkommen, einen Sturm, der mich zu Boden riss. Mein Vater rief mich vom Deck des am weitesten entfernten Schiffes, aber der Wind blies ihn außer Sicht und fegte dann durch die Straßen der Stadt wie ein Hurrikan. Und dann herrschte nur noch Stille.« Sie faltete ihre Hände vor sich auf dem Tisch und begutachtete sie eingehend. »Als ich wieder bei Sinnen war, erzählte ich meinem Vater, was ich gesehen hatte, doch er zog mich nur an sich und sagte, ich solle mich nicht quälen, den Wind könne man nicht stoppen. Am Martinstag desselben Jahres ertrank mein Vater. Er sollte Stuckarbeiten auf Schloss Drottningholm durchführen und fuhr mit dem Boot dorthin. Er fiel von Bord – oder er wurde gestoßen, das weiß niemand genau – und wurde von einer starken Strömung unter Wasser gezogen. Solche Winde sind ein fürchterliches Omen. Deswegen fürchte ich auch um Gustav.«
Ich wandte den Blick von ihr ab und sah in die dunkle Ecke des Raums. »Das tut mir leid für Sie, Madame Sparv.«
»Ich bin froh, dass Sie mich verstehen. Da gibt es nicht viele. Ich habe mir oft gewünscht, lieber ein Scharlatan zu sein.«
»Aber wenn Sie tatsächlich hellsichtig sind – haben Sie deshalb angefangen zu spielen?«, fragte ich.
»Ja und nein. Hellsichtigkeit hilft beim Gewinnen nicht, aber die Karten halfen mir, mit den Visionen zurechtzukommen, denn sie kamen immer wieder. Ich suchte andere Menschen auf, Frauen, die mit derselben Gabe geschlagen waren wie ich, um zu erfahren, was ich tun müsse, um davon loszukommen. Manche waren Schwindlerinnen, andere waren geisteskrank, doch die echten Seherinnen sagten, man könne die Gabe nicht zurückgeben, aber alle hatten Mittel und Wege gefunden, damit klarzukommen. Die einen strickten oder klöppelten, andere bedienten in Kaffeehäusern und Schänken, sie verrichteten Arbeiten, die Geist und Hände beschäftigt hielten. Ich wurde Wäscherin und lernte Karten spielen, ich spielte überall und mit jedem. Spielen war für mich das beste Mittel, um mich abzulenken, und ich stellte fest, dass in der Ruhe, die mir die Karten schenkten, das Wildpferd der Hellsichtigkeit gezähmt werden konnte.« Sie lehnte sich zurück und legte die Hände in den Schoß. »Als ich dann nach Paris reiste, stieß ich zufällig auf ein Buch: Etteilla, ou manière de se récréer avec un jeu de cartes von einem gewissen Jean-Baptiste Alliette. Es war eine elaborierte Philosophie und eine Unterweisung in der Kartomantie – die Divination mit Hilfe ganz normaler Spielkarten. Dieses Buch veränderte, oder ich sollte wohl besser sagen: rettete mein Leben. Ich fand nicht nur einen Weg, das, was ich sah, zu dechiffrieren und zu nutzen, sondern ich fand damit auch ein Gewerbe, mit dem ich vom Koch bis zur Krone Kunden finden könnte. Ansonsten wäre ich wohl auf einer Schute auf den Abwasserkanälen oder als Gespenst in Lalins Schießpulverfabrik gestrandet – nachdem ich als leichtes Mädchen durchgescheuert gewesen wäre. Im Übrigen«, sagte sie und beugte sich mit einem traurigen Lächeln zu mir vor, »konnte ich mit dem Werkzeug bereits umgehen, ich musste nur noch lernen, was man daraus machen kann.«
»Und nun ebnen Sie mir damit einen goldenen Weg«, sagte ich.
»Wie ihn das fröhliche Paar hier auf Ihrer Betrüger-Karte beschreitet.« Sie nahm die Karten, klopfte sie zusammen und legte sie mit der Bildseite nach unten hin. »Nur noch zwei weitere Karten, Herr Larsson.«
Der Gewinn
Quellen: E. L., Madame S., Dame C. Kallingbad
Endlich bekam ich Antwort von Carlotta! Wie es schien, stand der Leutnant den De Geers doch nicht so nahe, dass er ihnen in die Taschen greifen konnte. Ich traf mich mit ihr auf ein schnelles Picknick in Djurgården, wo sie mich an dem blauen Zaun leidenschaftlich küsste und mich Liebling nannte. Carlotta war wieder in Reichweite, und das Oktavo würde sie zu mir bringen, wenn ich nur meine acht Kartenrepräsentanten in die richtige Richtung schob. Sie war betrübt, dass ich unser Picknick wegen des Oktavos abbrechen musste, aber ich versicherte ihr, dass dies für unser künftiges Glück entscheidend sei. Ihre Umarmung an der Mole war so zärtlich, dass ich ganz davon erfüllt war, und dieses Gefühl begleitete mich den gesamten Weg zur Gråmunkegränd. Das Wetter war prächtig, und in meinem Schritt lag die unbändige Kraft der Liebe, während ich im Geiste meinen Antrag formulierte. Als ich die Hausnummer 35 betrat, sagte Katarina, Madame Sparv sei bereits oben, schon den ganzen Abend über.
»Sie kann es nicht erwarten, den Gewinn mit den Karten zu vermitteln«, sagte ich, »und ich bin bereit, ihn anzunehmen.«
»Sie würde Sie am liebsten gar nicht sehen«, sagte Katarina hinter meinem Rücken, als ich, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauflief.
Ich setzte mich Madame Sparv gegenüber und rieb mir die Hände, bevor sie mischte und mir die Karten zum Abheben zuschob. Auf dem Fenstersims stand ein Blumentopf mit Lavendel, sein Duft war schwer. »Ich rieche … Erfolg.«
»Ach ja?« Endlich sah sie mich an, ihre Augen waren rot, ihr Gesicht war fleckig. »Dann haben Sie keinen guten Riecher für Neuigkeiten.« Sie erzählte mir, dass der Polizeichef mit einer Nachricht von Gustav vorbeigekommen sei: Die Rettung der königlichen Familie Frankreichs war fehlgeschlagen. Sie war in Varennes gefangen genommen worden, und es sah gar nicht gut für sie aus. Gustav wollte noch eine Zeit lang in Aix la Chapelle bleiben – so hieß Aachen, seit es mit Frankreich vereint worden war –, um die Emigranten zu trösten und einen neuen Plan zu schmieden.
»Was wird nun geschehen?«, fragte ich. All mein Frohmut war dahin. Ich musste unweigerlich an die Kinder der Königin und des Königs denken.
»Wenn ich doch nur so weit in die Ferne sehen könnte, Herr Larsson. Aber jetzt legen wir hier Ihre Karten.« Schweigend legte sie fünf Runden, aus dem Saal unten drang Gemurmel herauf. Die Ablenkung schien Madame Sparv zu helfen, und als mein Gewinn erschien, konzentrierte sie sich ganz auf die Karte: den Ober der Kelche.
»Mein Gewinn ist ein Mann?« Ich fühlte mich betrogen.
Madame Sparv versicherte mir, dass diese Karte in der Position des Gewinns gut sei. »Kelche unterstützen die Vision von Liebe und Verbundenheit. Und der Ober ist eine verdienstvolle Person. Er hält die Malerpalette, ein Zeichen für Kultiviertheit und Finesse. Wer er auch ist, er wird Ihr Liebeswerben unterstützen und Ihnen etwas von Wert zuführen – vielleicht einen Vater, der Ihnen sein Meisterwerk anbietet: die Hand seiner Tochter. Und sehen Sie: die Lilie, die Blume der französischen Könige.« Sie blickte mich an, und meine Sorge spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Aber die Lilie wuchs auch im Garten Gethsemane am Ostermorgen. Wiederauferstehung. Eine ausgezeichnete Karte.« Sie nahm ihr Notizbuch und füllte das siebte Rechteck meines Diagramms aus. »Sie müssen jetzt gehen, Herr Larsson. Mir ist heute Nacht nicht nach Spielen zumute.«
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