Karen Engelmann
Aus dem Amerikanischen von Gaby Wurster
Roman
Saga
Das Stockholm Oktavo
Übersezt von Gaby Wurster
Titel der Originalausgabe: The Stocholm Octavo
Originalsprache: Englisch
Coverbil/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2013, 2021 0 und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726922400
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
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Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Für Erik
Emil Larsson
Sekretär des Zoll- und Steueramtes
von Stockholm (»der« Stadt)
Sofia Sparv
Besitzerin eines Spielsalons in der Gråmunkegränd, wo sie auch
die Kunst des Kartenlesens und Hellsehens ausübt.
König Gustav III.
Seit 1771 Herrscher und seit 1772 König von Schweden.
Gast, Kunde und Freund von Sofia Sparv.
Herzog Karl
Gustavs jüngerer Bruder, Anhänger der Patrioten, einer gegen
Gustav gerichteten Gruppierung.
General Karl Frederick Pechlin
Langjähriger Gegner Gustavs und Anführer der Patrioten.
Die Uzanne (Baroness Kristina Elisabeth Luisa Uzanne)
Fächersammlerin, Lehrerin, Liebling des Adels und Herzog Karls.
Carlotta Vingström
Mannbare Tochter eines wohlhabenden Weinhändlers
und Uzannes Protégée.
Kapitän Hinken
Schmuggler.
Johanna Blom , geb. Grå
Apothekerlehrling und Ausreißerin nach Stockholm.
Meister Fredrik Lind
Bester Kalligraph der Stadt.
Christian Nordén
Schwedischer Fächerhersteller, in Frankreich ausgebildet,
geflohen aus dem Paris der Revolution.
Margot Nordén
Christans französischstämmige Gattin.
Lars Nordén
Christians jüngerer Bruder.
Anna Maria Plomgren
Kriegerwitwe.
sowie
verschiedene und ganz unterschiedliche Bürger
der Stadt Stockholm.
Das Stockholm-Oktavo wird nie in offiziellen Dokumenten auftauchen. Kartomantie ist kein Gegenstand für Staatsarchive – waren die Hauptbeteiligten doch Kartenspieler, Händler und Frauen – und kaum ein Thema für Gelehrte. Dennoch verdient sie Aufmerksamkeit, daher diese Niederschrift. Ich habe diese Geschichte aus Erinnerungsfetzen zusammengestellt, die meisten neigen dazu, dem Memoirenschreiber zu schmeicheln. Diese Fragmente wurden angereichert mit Informationen, zusammengetragen aus Regierungsunterlagen, Kirchenregistern, von unzuverlässigen Zeugen und unverhohlenen Lügnern sowie von Leuten, die alles mit den Augen der Dienerschaft oder der Bekanntschaft »sahen«, Leuten, die von der Familie als entfernte Cousins fünften Grades verflucht wurden und die Dinge aus dritter oder vierter Hand hörten. Der harte Kern meiner Quellen war jedoch bestrebt, offen zu sein, denn diese Menschen hatten nichts zu verbergen – und in gewissen Fällen rückten sie nachgerade bereitwillig mit der Wahrheit heraus, wenn diese dazu führte, einem Ruf zu schaden, der bekanntlich auf Täuschung gründete. Ich habe diese Informationen auf Überschneidungen und bestätigende Wiederholungen geprüft und konnte diese verdienstvollen Quellen herausarbeiten. Mitunter jedoch gab es keine Angaben, daher baut manches, was ich nun erzählen will, auf Spekulation und Hörensagen auf.
Man nennt es auch Geschichte.
Emil Larsson, 1793
Arte et Marte –
»Friedens- und Kriegskunst«
Inschrift über dem Portal des Riddarhuset, des
Versammlungshauses des schwedischen Adels in Stockholm
Stockholm 1789
Quellen: E. L., Polizeimeister X., Herr F., Baron G., Madame S.,
Archivar D. B. vom Riddarhuset
Stockholm wird das »Venedig des Nordens« genannt, aus gutem Grund. Reisende halten es für ebenso labyrinthisch, groß und geheimnisvoll wie seine Schwester im Süden. Im kalten Mälarsee und in den verschlungenen Wasserwegen der Ostsee spiegeln sich herrschaftliche Paläste, strohgelbe Stadthäuser, anmutige Brücken und wendige Skiffs, auf denen die Einwohner zwischen den vierzehn Inseln der Stadt unterwegs sind. Anders als Venedig jedoch, das sich in ein sonniges, hochentwickeltes Venetien hinein ausdehnen konnte, bilden die tiefen Wälder, die diesen glitzernden Archipel säumen, einen dunkelgrünen Saum voller Wölfe und anderer Wildheiten, der gleich hinter der Stadt in ein archaisches Land und in das rohe Leben der Bauern führt. Aber an der Schwelle zur letzten Dekade dieses Jahrhunderts, in den letzten Jahren der aufgeklärten Herrschaft Seiner Majestät König Gustavs III., dachte ich nur selten an das Hinterland und seine versprengten darbenden Bewohner. Die Stadt hatte so viel zu bieten, alle Möglichkeiten schienen offenzustehen.
Allerdings erschien diese Zeit auf den ersten Blick nicht als die beste. Vieh wurde oft mitten in den Häusern gehalten, baufällige Sodendächer moderten vor sich hin; Pockennarben, Schleimhusten und unzählige andere, nicht zu übersehende Symptome von Krankheiten, die die Bevölkerung heimsuchten, waren allgegenwärtig. Zu jeder Stunde schlug die Totenglocke, denn der Tod fühlte sich in Stockholm heimischer als in jeder anderen europäischen Stadt. Der Gestank offener Kloaken, verfaulter Nahrungsmittel und ungewaschener Leiber verpestete die Luft. Doch inmitten dieses düsteren Tableaus konnte man einen Blick auf ein wasserblaues Seidenwams mit goldgesticktem Vogelmuster erhaschen, man konnte das Rascheln einer Taftrobe und Verse aus der französischen Lyrik hören, konnte rosenduftende Pomade und Eau de Cologne riechen, herangetragen vom selben Wind, in dem auch eine Melodie von Bach, Bellman oder Kraus schwang – die wahren Kennzeichen der gustavianischen Zeit. Ich wünschte mir, diese goldene Ära würde ewig andauern.
Ihr Niedergang sollte unvergesslich werden, doch fast alle verpassten den Anfang vom Ende. Das war nicht sonderlich überraschend, rechneten die Menschen doch nur im Zusammenhang mit gewaltsamen Ausschreitungen mit einer Revolution – Amerika, Holland und Frankreich waren die jüngsten Beispiele dafür. In jener Februarnacht, in der unsere stille Revolution begann, war es jedoch ruhig in Stockholm, die Straßen waren so gut wie ausgestorben, und ich spielte Karten bei Madame Sparv.
Wie jeder andere in der Stadt liebte auch ich das Kartenspiel. Wo Menschen zusammenkamen, gab es auch Karten, und wer nicht mitspielte, galt nicht nur als unhöflich, sondern als tot. Man vergnügte sich bei allen möglichen Partien am Tisch, Boston Whist aber war unser Nationalspiel. Spielen war ein Beruf, dem, ähnlich der Prostitution, lediglich eine Zunft und ein Wappen fehlten, dennoch war er in der gesellschaftlichen Architektur der Stadt eine anerkannte Säule. Es schuf auch eine Art soziale Durchlässigkeit: Menschen, mit denen man sonst niemals Umgang pflegen würde, saßen einem am Kartentisch gegenüber, vor allem wenn man zu den eingefleischteren Spielern gehörte, die Zutritt zu Sofia Sparvs Spielsalon hatten.
Einlass in dieses Etablissement zu bekommen war sehr begehrt. Trotz der gemischten Gesellschaft – hochwohl und nieder geboren, Damen und Herren – bedurfte es dazu einer persönlichen Empfehlung, nach der die französischstämmige Madame Sparv ihre neuen Gäste mit Hilfe eines unergründlichen Systems eingehend prüfte: Spielgeschick, Charme, politische Haltung, ihre eigenen verborgenen Neigungen. Fiel man durch ihr Raster, hatte man für immer verspielt. Ich bekam eine Einladung über den Polizeispitzel in der Straße, mit dem ich einen intensiven, fruchtbaren Austausch von Informationen und Waren in meiner Eigenschaft als Angestellter der Zoll- und Steuerbehörde der Stadt pflegte. Ich hatte die Absicht, ein vertrauenswürdiger Stammgast von Madame Sparv zu werden und mein Glück in jeder Hinsicht zu machen. So wie unser König Gustav einen eisigen, provinziellen Landstrich übernommen und ihn in eine Hochburg der Kultur und Vornehmheit verwandelt hatte, so wollte ich vom Botenjungen zum geachteten rot livrierten Sekretär aufsteigen.
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