Dekonstruktion, der philosophische Ansatz Jacques Derridas, ist die weltweit erfolgreichste und zugleich unbekannteste philosophische Innovation seit Heideggers Fundamentalontologie. In unzähligen Verästelungen hat sich Dekonstruktion in den verschiedensten künstlerischen und literarischen Praktiken etabliert, ohne dass damit eine klare Vorstellung über diesen Begriff und diese philosophische Strategie verbunden wäre. Die antitotalitäre politische Motivation der Dekonstruktion, die für ihr Verständnis wichtig ist, blieb fast völlig ausgeblendet. Tatsächlich macht es Dekonstruktion schwer, sie in einer nüchternen Wissenschaftssprache zu beschreiben, weil sie jede letzte begriffliche Festlegung systematisch verweigert. Diese Eigenschaft ist nicht nur der Kern der philosophischen Intervention Derridas, sondern auch die notwendige Bedingung einer antitotalitären politischen Haltung, die nicht selbst wieder totalitär erstarrt. Engelmann zeigt, dass es mit Saussures Semiotik eine nüchterne Wissenschaftssprache gibt, mit der Derrida Dekonstruktion entwickelt hat und mit der man Dekonstruktion begreifen kann, ohne mit der beschreibenden Sprache ihre Eigenheiten und Erkenntnismöglichkeiten zugleich wieder zu verdecken. Das Buch stellt Dekonstruktion in den größeren Rahmen historischer und zeitgenössischer differenzphilosophischer Ansätze und macht sie so im Kontext philosophischer Diskursivität verständlich.
Peter Engelmann ist Philosoph, Herausgeber der französischen Philosophen der Postmoderne und der Dekonstruktion und Verleger des Passagen Verlages.
Peter Engelmann
Jacques Derridas semiotische Wende
der Philosophie
Herausgegeben von Peter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Die deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-85165-957-3
eISBN (EPUB) 978-3-7092-5014-3
© 2013 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Vorwort
Einleitung
1.Differenzphilosophie als kritische Theorie
1.1 Postmoderne und Dekonstruktion als zeitgenössische Kritik autoritärer Strukturen
1.2 Der gesellschaftliche Kontext der Entstehung von Postmoderne und Dekonstruktion: Frankreich in den 1960er Jahren
1.3 Dekonstruktion und Aufklärung
2.Zur Bestimmung der Differenzphilosophie
2.1 Differenzphilosophie und Heterogenität
2.2 Literarische und philosophische Diskursivität: Zum Stil der Differenzphilosophie
3.Zur philosophischen Genealogie der Dekonstruktion
3.1 Dekonstruktion in der neuzeitlichen europäischen Philosophietradition
3.2 Hegels Kritik der neuzeitlichen Subjektzentrismus
3.2.1 Strategie der Hegelinterpretation
3.2.2 Einleitungen in die besonderen philosophischen Wissenschaften
3.2.3 Die Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Verhalten
3.2.4 Die Differenzierung des theoretischen Verhaltens in den Einleitungen
3.2.5 Hegels Erweis der Überlegenheit philosophischer Wissenschaft auf der Ebene und in der Weise empirischer Wissenschaft
3.2.6 Philosophische Wissenschaft als Überwindung der neuzeitlichen Wissenschaft
3.2.7 Vergleich der Philosophie Hegels und Derridas anhand ihres Differenzbegriffes
3.3 Schopenhauer als Philosoph des Übergangs zur sprachphilosophischen Metaphysikkritik
3.4 Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs als Metaphysikkritik der Sprache
3.5 Heidegger und Derrida: Ontologische und semiotische Strategien der Metaphysikkritik
4Dekonstruktion: Die semiotische Wende der Philosophie
4.1 Die Kritik der Nomenklaturauffassung der Sprache in der Philosophie und in der Semiotik: Leibniz und Saussure
4.2 Philosophische Metaphysikkritik und semiotische Argumentation
4.3 Was ist Dekonstruktion? Derridas Randgänge als Philosophie
5Zum Verhältnis von Philosophie und Politik: Dialektik, Dekonstruktion und totalitäre Politikkonzepte
5.1 Dekonstruktion als Anknüpfungspunkt für kritische politische Reflexion
5.2 Totalitarismus als politikwissenschaftliches und als philosophisches Problem
5.3 Dialektik und Totalitarismus
5.3.1 Dialektik im politischen Raum
5.3.2 Dialektik und Systemgedanke
5.3.3 Der Totalitätsanspruch der hegelschen Philosophie und politischer Totalitarismus
5.4 Dekonstruktion und Totalitarismus
5.4.1 Dekonstruktion und politisches Engagement
5.4.2 Politik und Dekonstruktion – Dekonstruktion der Politik
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Für Alexandra
In allen meinen philosophischen Arbeiten habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie das Individuelle, das Heterogene gegen jegliche Art von Übergriffen eines wie auch immer bestimmten Allgemeinen seine eigenständige Geltung erhalten könne. Dabei geht es nicht darum, die „Existenz“ eines Allgemeinen oder die Notwendigkeit von Allgemeinem zu negieren, sondern darum, es in seiner Macht über das Heterogene auf das Notwendige zu beschränken. Jedenfalls soll dem Allgemeinen nicht die Bedeutung zukommen, dass das Individuelle seine Geltung nur aus seiner Bestimmung als Moment des Allgemeinen erhält.
Diese Motivation resultiert aus meinen Erfahrungen mit dem politischen System, in dem ich aufgewachsen bin. Für mich, der ich aus Ostberlin komme und dort mit dem politischen System der DDR kollidierte, ist diese Fragestellung auch die Übersetzung persönlicher Erfahrungen mit der „Diktatur des Proletariats“, mit der Willkür des Parteiapparates, mit den alltäglichen Schikanen, denen Menschen bürgerlicher Herkunft ausgesetzt waren, und schließlich mit der gnadenlosen Allmacht der Stasi, in das Feld philosophischer Forschung. Über diesen biografischen Hintergrund hinaus ist es allgemein die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die die Frage nach der eigenständigen Geltung des Heterogenen zu einer über das Persönliche hinausgehenden Problematik macht.
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem sich zwei totalitäre politische Systeme, Nationalsozialismus und „Diktatur des Proletariats“, im Namen einer Allgemeinheit über das Individuum hinweggesetzt und unendliches Leid über die Menschen gebracht haben, bis hin zum millionenfachen Mord aus ideologischen Motiven. Aufgrund dieser Erfahrung mit totalitären Gesellschaftssystemen, einer mittelbaren und einer unmittelbaren, musste die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und womöglich in der DDR aufgewachsen Deutschen nicht nur klären, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten möglich gewesen waren, sondern auch, wie sich direkt im Anschluss daran ein neues totalitäres Regime in Ostdeutschland etablieren konnte.
Die Nachkriegsgeneration in Deutschland musste eine Erklärung dafür finden, wie selbst ihre humanistisch gebildete Elterngeneration in der Mehrheit das System des Nationalsozialismus mittragen konnte, aber auch dafür, wie diese Generation und auch sie selbst im Namen des Sozialismus eine totalitäre „Diktatur des Proletariats“ errichten konnten, als wäre nicht gerade eine Periode totalitärer Herrschaft zu Ende gegangen.
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