In diesen Pflanzen und Blumen entdeckte Johanna einen ganzen Regenbogen. Sie fing an, die Pigmente zu trocknen oder zu mazerieren, um die Farben zu bewahren. Sie studierte die Färbungen der Wurzeln, Samen, Blüten und Rinden, die sie trocknete und zu Pulver zermahlte. Wenn sie die Pigmente in Leinöl oder Alkohol gab, erzielte sie die buntesten Ergebnisse. Ihrem Vater sagte sie, sie würde auf diese Weise Botanik und Pharmazeutik studieren, ihrer Mutter sagte sie, es sei ein persönliches Gebet. Manche ihrer Mixturen hatten heilende Eigenschaften, und sie schlug ihren Eltern vor, durch deren Verkauf das Familieneinkommen aufzubessern. Die schmackhaften Tinkturen waren wohltuend und wurden schnell beliebt, vor allem eine, die Herr Grå das »Anti-Katzenjammer-Tonikum« nannte. Es bestand aus Ingwer, Kardamom und Schnaps. In der klaren Flüssigkeit schwammen winzige weiße Teilblüten der Schafgarbe, und es kurierte so manch einen Kater im umliegenden Land, während es ein beachtliches Sümmchen in die Kasse spülte.
Die Grås erlebten ein Jahr der Blüte und der relativen Ruhe, bis Johanna mit sechzehn zur Frau wurde. Frau Grå betrachtete dies als den Eintritt ihrer Tochter in den gefährlichen Schärengarten der Weiblichkeit und hielt ihr täglich Standpauken gegen die Todsünde der Lust. Sie stachelte ihren Mann dazu an, grauenerregende Geschichten über verstümmelte Dirnen aus dem Alten Testament vorzulesen, sie nahm Johanna das farngrüne Haarband weg, das diese in ihrem Leibchen versteckte, und verbrannte es als den Keim der Liederlichkeit. Doch diesbezüglich war ihre Angst unbegründet – weder hatte Johanna fleischliche Gelüste, noch wurde ihr vom anderen Geschlecht jemals die geringste Aufmerksamkeit zuteil. Es war, als hätte sich die neutrale Chemie, die ihre Erscheinung bestimmte, mit dem Odem des Keuschheitsengels vermischt. Johanna wäre es nicht im Traum eingefallen, ihre eigene Hand über die weiche Haut ihrer Brüste und ihres Unterleibs wandern zu lassen, um zu erkunden, was sie zwischen den Beinen hatte. Ihre körperliche Reife weckte in ihr einzig und allein des Öfteren das Bedürfnis nach einem Bad. Als Frau Grå die natürliche Tugendhaftigkeit ihrer Tochter erkannte, betrachtete sie diese als einen Segen des Herrn und fing an, ein passendes Gegenstück für sie zu suchen. Herr Grå sah sich nach einem neuen Lehrling um. Aber die Dinge liefen nicht nach dem Plan Gottes oder dem Plan der Grås. Und auch nicht nach dem der jungen Johanna.
Hinken nahm Johannas Hand und steckte ihr eine Münze zu. »Wir haben es nicht böse gemeint, Fräulein Grå.«
»Sie haben ein gutes Herz, Kapitän«, sagte ich und wünschte spontan, ich wäre der Großzügige gewesen.
»Es wird durch Übung weicher, Sekretär«, sagte Johanna.
Ich fischte eine Münze aus meiner Tasche und reichte sie ihr. »Ich nehme an, ich kann klein anfangen.«
»Ein kleiner Schlüssel kann ein großes Tor öffnen«, sagte sie und ging weg.
Hinken und ich stießen mit unseren Bechern an, dann zog ein lauter Tisch mit Spielern unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren in eine Partie Poch vertieft, ein altes elsässisches Kartenspiel, das an einem Pochbrett gespielt wurde, bestehend aus acht Feldern für die Einsätze und einem Mittelfeld für den Talon. Ich verfolgte eine Weile das Melden und Pochen, dann studierte ich das Brett mit den acht Feldern, die mich an meine Verabredung mit Madame Sparv erinnerten. Die Felder waren mit Begriffen wie Mariage, König und Bube benannt. Es war schon nach elf Uhr, und bei dem Gedanken, in der regendunklen Nacht in die Gråmunkegränd zu eilen, verfinsterte sich mein Gesicht, aber wenn ich mich nicht zeigte, wäre ich selbst der Leidtragende.
Hinken stieß mich in die Rippen. »So ein düsteres Gesicht, Sekretär – das kann man mit einem Liedchen vertreiben. Hier kommt endlich die Musik, um die Sie gebeten haben.« Er nahm seine Ziehharmonika von der Nebenbank und stimmte sich mit einer einfachen Tonleiter ein: c, d, e, f, g, a, h, c’.
»Das ist eine Oktave, nicht wahr?«, fragte ich. »Der erste und der letzte Ton sind gleich.« Hinken nickte.
»Warum muss man den Grundton wiederholen? Warum können es nicht sieben Töne sein, warum müssen es acht sein?«
Hinken runzelte bei dieser verwirrenden Frage die Stirn. Er spielte ein paarmal die Tonleiter hinauf und hinunter und ließ jeweils den letzten Ton aus. Dann setzte er seine Ziehharmonika ab und zuckte mit den Schultern. »Es klingt einfach nicht stimmig, man braucht alle acht Töne.«
»Dann … dann ist das also eine Wahrheit«, fragte ich ruhig, »im weiteren Sinn?«
Wieder zuckte Hinken mit den Achseln und fing an zu spielen, doch nach zwei melancholischen, mit falschen Tönen durchzogenen Balladen hatte der Wirt genug und sagte, er solle aufhören. Die letzte Bestellung wurde ausgerufen, das Knarren der Stühle und Bänke, die auf die Holztische gestellt wurden, mischte sich in das Scheppern aus dem Spülstein im Hintergrund. Johanna streute Sägemehl und Sand auf die Bodendielen und machte sich ans Auskehren.
»Was wissen Sie sonst noch über Oktaven und Achterkonstellationen?«, fragte ich Hinken. Johanna kam näher, sie fegte so langsam, dass man ihren Besen kaum hörte.
»Die Acht hat mir immer Glück gebracht, Herr Sekretär. Es gibt zwar nur sieben Meere, aber mein Schiff heißt Der Achte – ich nenne es Henry . Ein Schiff hat zwar selten einen Männernamen, meines aber schon.«
Johanna stützte sich auf ihren Besen. »Mein Vater ist Apotheker, er hat Kräuter von einem Chinesen gekauft, der eine Tätowierung in Form einer Acht hatte, sie begann am Mittelfinger und zog sich über den ganzen Unterarm bis zum Ellbogen. Der Chinese huldigte den ›Acht Unsterblichen‹, die Reichtum und ein langes Leben schenken. Er erzählte meinem Vater, die Acht sei die beste Zahl und stehe für Glück.«
Hinken nickte. »Und die aus dem Fernen Osten sind die glücklichsten Bastarde! Alle, die ich getroffen habe, hatten noch sämtliche Zähne im Mund«, sagte er. »Aber warum fragen Sie, Sekretär?«
»Eine Wahrsagerin hat begonnen, mir mit acht Karten ein sogenanntes Oktavo zu legen«, antwortete ich. »Ich sollte jetzt bereits bei ihr sein, damit wir die nächste Karte legen können.« Ich blickte zum Nebentisch und dem verlassenen Pochbrett mit den acht Mulden um die leere Mitte herum. »Ich musste ihr gegenüber einen Schwur leisten, dass ich das Oktavo beende. Es führe zu meiner Wiedergeburt, sagte sie.«
»Und welche Art von Wiedergeburt soll Ihnen das Oktavo bescheren, Herr Sekretär? Reichtum und ein langes Leben wie die Unsterblichen des Chinesen?«, fragte Johanna.
»Sie sagte, es würde mir Liebe und Verbundenheit bringen, aber das bekomme ich sowieso, Karten hin oder her. Ich bin fast verlobt.«
»Meinen Glückwunsch!« Hinken schlug mir auf den Rücken. »Und mein Beileid.«
Ich reckte die Arme und spürte, wie die Gelenke an meinen Schulterblättern knackten. »Vielleicht kann ich stattdessen morgen Nacht gehen.«
Hinken stand so jäh auf, dass er sich an mir festhalten musste, um nicht zu fallen. »Es ist riskant, einen Schwur zu brechen, vor allem wenn die Hellseherin eine wahre Gabe hat. Sie könnte Sie dafür verfluchen.«
Madame Sparv würde zwar ungern ihren Partner im Falschspiel verlieren, aber sie hatte tatsächlich gesagt, dass Suchende, die das Oktavo nicht ernst nahmen, auf ihrem Weg strauchelten. Und ich sollte mir das reiche Schiff namens Carlotta mit allen Mitteln sichern. »Sie haben recht, Hinken, es wäre weise, die Sache durchzuziehen. Als eine Art Zusatzversicherung für meinen Erfolg.«
»Stecken Sie Ihren Kurs ab, dann kommen Sie ans Ziel Ihrer Wahl«, riet mir Hinken, als er seinen Mantel überzog. »Ich würde Sie ja gern zu dieser Wahrsagerin begleiten, aber Sie werden verstehen, dass es für uns beide das Beste ist, wenn sich unsere Wege hier trennen.«
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