»Und nun?«, fragte sie.
»Nun habe ich mein Ziel erreicht, Madame Sparv. Ich werde im Amt und in der Stadt bleiben, bis ich meinen Posten verkaufe oder sterbe. Vorausgesetzt, mein Oktavo bildet sich schnell genug heraus, dass ich meinem Vorgesetzen zu Willen sein kann. Er ist bereit, noch bis zu seinem Namenstag im August zu warten, aber nur weil er die De Geers hasst.«
Der Schlangenkoch
Quellen: E. L., Madame S.
Die Arbeit auf dem Amt hätte an diesem Tag nicht schlimmer sein können. Das endlose Ordnen offizieller Unterlagen und das Brummen meines Vorgesetzten bescherten mir rasende Kopfschmerzen. Selbst die Schwarze Katze enttäuschte mich, nachdem sie den Kaffee dort mit gerösteter Zichorie aufbrühten, um ein paar Öre zu sparen. Und das Schlimmste überhaupt: Ich hörte nichts von Carlotta. Der Leutnant hatte wohl den Sieg davongetragen – doch dann erinnerte ich mich an den Vorteil meiner acht Karten. An diesem Abend legte sich leichter Nebel auf die Straßen, aber der Vollmond schien am Himmel und verwandelte ihn in eine schimmernde Wolke, die die Stadt einhüllte. Magie lag in der Luft, und meine Hoffnung flammte wieder auf.
»Der Leutnant hat seinen Rivalen unterschätzt«, sagte ich, als ich mich an meinen gewohnten Platz im oberen Zimmer setzte. »Ich werde Carlotta für mich gewinnen, Madame Sparv.«
»Ist das Ihr Verständnis von Liebe und Verbundenheit?« Sie sah mich missbilligend an, während sie die Karten mischte. »Es ist ein hohes und geheimnisvolles Privileg – bedeutend genug, um dafür ein Oktavo zu legen. Sie aber reden daher, als wäre das Mädchen der Topf auf einem Spieltisch unten im Saal.«
»Ich gewinne eben gern – so wie Sie auch!«, sagte ich und zog meinen Umhang aus. »Ist das nicht Sinn des Spiels? Carlotta ist der Hauptgewinn: ein hübsches Vögelchen, ein gemachtes Nest, ein behütetes Heim und eine Zukunft im Amt.«
»Das klingt für mich nach einem Käfig.« Madame Sparv schob die sechs bekannten Karten zur Seite und legte aus. Der Geschwätzige musste es eilig gehabt haben, zu Wort zu kommen, denn er kam schon in der zweiten Runde.
»Die sechste Position. Der Geschwätzige. Wieder Stempelkissen! Sie haben viele Personen aus Handel und Gewerbe um sich. Der Geschwätzige redet und redet – entweder spricht er zu Ihnen oder über Sie. Sein Gerede hat hier viele mögliche Quellen und Themen. Die Karte ist schwer zu deuten. Aber es ist eine schöne Karte. Mir gefällt die Dame darauf. Und der Arm des Edelmanns liegt so liebevoll auf ihrer Schulter. Die Zahl Fünf steht für Veränderung und Bewegung. Die Personen scheinen es zu genießen.«
Ich nahm einen Schluck Bier aus dem Glas, das Katarina mir gebracht hatte. »Vermutlich wird der Leutnant einiges zu sagen haben, wenn er mich mit Carlotta im Arm sieht.«
Madame Sparv verdrehte die Augen. »Ich bin beeindruckt – Sie haben die Karten im Blut, Madame Sparv!«
»Nur weil ich sie lege. Um meiner Hellsichtigkeit willen. Denn ich habe herausgefunden, dass ich selbst die Karten genauso brauche wie jeder andere Suchende.« Eine Weile hörte man nur das Geräusch der blakenden Kerze. »Die Hellsichtigkeit wurde mir nicht in die Wiege gelegt – trotz meines Vornamens Sofia, der ›Weisheit‹ bedeutet. Und es war auch keine Gabe.« Sie nahm die Karten und schob sie zusammen. »Als kleines Mädchen liebte ich die Vorführungen der Gaukler, die durch die Lande zogen. Wann immer mein lieber Vater Zeit hatte, nahm er mich mit zu den Feuerschluckern, Jongleuren, Akrobaten und Zigeunerinnen. Eines Sommers waren mein Vater und ich besonders gespannt auf einen echten Schlangenbeschwörer, der von weit her aus dem Fernen Osten gekommen war. Der Gewölbekeller des Wirtshauses, wo diese Darbietungen stattfanden, war voll und von lautem Geplauder erfüllt. Mein Vater schob mich auf einen freien Stuhl ganz vorn, er selbst fand ein paar Reihen weiter hinten einen Platz. Dann ertönte das Blöken eines Horns und das Grollen einer Trommel. Aus dem Durchgang zur Küche trat der Schlangenbeschwörer – braun wie eine Walnuss, einen safrangelben Turban um den Kopf gewickelt, ein Gewand aus schön gestreiftem Stoff, der im Dämmerlicht schimmerte. Der Schlangenmann sprach gebrochen Französisch, das der Wirt nur schlecht übersetzte, aber Französisch war ja meine Muttersprache. Der Schlangenbeschwörer erklärte, Musik sei die Sprache, die allen Geschöpfen gemeinsam sei, und nun wolle er den König der Schlangen rufen, ›Le roi‹ , sagte er leise und fing an, auf einer langen, dünnen Flöte zu spielen. Und aus einem schwarzen Schilfkorb erhob sich eine dicke Albino-Schlange.
Mittlerweile wimmelte es in der Taverne nur so von Menschen, und der Raum vibrierte vor Angst, ich aber spürte davon nichts. Der Schlangenmann sah, dass ich ihn verstand, und wusste, dass ich im Bann seiner Vorführung stand. Er fragte, ob ich den König der Schlangen halten wolle, und ich nickte. Er hob den Albino zärtlich hoch, küsste ihn auf den Kopf und gab ihn mir. Er war überaus weich, und ich spürte die Kraft dieses Wesens, als es sich um meinen dünnen Arm wickelte. Die Schlange wurde ruhig und reglos, und wie der Schlangebeschwörer küsste auch ich das liebliche Tier auf den Kopf.
Aus der versammelten Menge rief jemand laut und nannte mich Eva, ein paar junge Männer meinten, ich solle doch die biblische Szene nachspielen. Alle lachten und klatschten, vielleicht waren sie erleichtert, dass jemand die Bibel erwähnt hatte. Jemand warf einen verschrumpelten Apfel nach vorn, er landete auf dem Tisch. Ein betrunkener Hausierer brüllte, ich solle mich nackt ausziehen. Mein Vater ging mit Zähnen und Klauen auf ihn los. Eine alte Frau fing an, die Namen Jesu und des Teufels zu rufen, während sie mit dem Finger auf den Fremdling zeigte – in der Taverne ging es zu wie auf einem Schlachtfeld. Der Schlangenmann raffte schnell seine Körbe zusammen und verschwand, in dem ganzen Gewühl unbemerkt, durch die Küche.
Ich folgte ihm, um ihm seine Schlange zurückzugeben, doch er war bereits weg. Nur der fette Koch war in der Küche und buk Pasteten. Er warf mir kurz einen Blick zu und schrie, ich solle verschwinden, dann widmete er sich wieder seinem Teig. Doch dann hielt er inne und blickte mich noch einmal an, und dieses Mal sah er die Schlange, die sich um meine Handgelenke geringelt hatte. Mit mehlstaubigen Händen kam er langsam um den Tisch herum und schloss ganz ruhig die Tür zum Schankkeller. ›Ich habe viele Geschichten gehört, kleines Fräulein, und habe mich immer gefragt, ob sie wohl wahr sind.‹
Ich dachte, er meine Eva und den Garten Eden und wolle die Gelegenheit nutzen, den König der Schlangen aus der Nähe zu sehen. Ich hielt ihm den Albino hin, dass er ihn berühren konnte. ›Keine Angst!‹, sagte ich. Und da sprang der Koch auf mich zu, riss mir die Schlange aus den Händen und warf das arme Geschöpf in einen Kessel, der an einem Spieß über dem Feuer hing. Der zischende Dampf und das Zucken der bleichen Schlange in dem sprudelnden Wasser verfolgen mich bis heute.
›Wir tunken die Brühe auf, wenn sie gar ist‹, flüsterte er in heller Aufregung, ›und dann haben wir Visionen. Meine Großmutter hat geschworen, es sei wahr. Wir werden sehen, kleines Fräulein, wir werden sehen!‹
Die Schlange war nun tot und trieb in der brodelnden Brühe. Der dicke Koch riss ein Stück grobes Schwarzbrot ab, tunkte es in den Sud und gab es mir. Sein Umfang und seine grimmige Miene versperrten die Tür zum Schankraum. Ich konnte die Küche nicht verlassen, ohne von seinem Gericht zu kosten.
›Aber wollen Sie selbst denn nicht auch Visionen haben?‹, fragte ich, in der Hoffnung, entkommen zu können. Lächelnd verbeugte er sich vor mir wie der vornehmste Herr und wartete, bis ich das Brot in den Mund geschoben hatte und kaute. Es schmeckte weder nach Fegefeuer noch nach der eisigen Kälte des Jenseits, es war einfach nur feuchtes Schwarzbrot. Ich zwang mich zu einem Lächeln und zuckte mit den Schultern – ich wollte einfach nur weg. Der Koch trat lachend zur Seite. ›Verfluchtes Volksmärchen!‹, schnaubte er und stopfte sich ein Stück rohen Pastetenteig in den Mund. ›Ich wollte nur wissen, ob es wahr ist.‹ Ich stürzte zur Tür, griff nach dem eisernen Riegel, und dann wurde alles in dem Raum, alles in der Welt weiß.«
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