1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Selbst die Kirche kam nicht infrage, denn die Fähigkeit zu lesen war eine grundlegende Voraussetzung. Nicht, dass Nathaniel auch nur den geringsten Wunsch verspürte, Geistlicher zu werden. Er hatte an die Marine gedacht, aber Walter hatte darauf bestanden, dass Nathaniel zuerst Eliza heiratete. Seine Studien waren ein steter Kampf gewesen, so lange er zurückdenken konnte.
Während Susanna gerne Stunde um Stunde mit Lesen verbrachte, hatte sich Nathaniel immer danach gesehnt, draußen zu sein, zu rennen, zu klettern und zu schwimmen, sich zu bewegen. Worte auf Papier schienen sich ihm nicht zu enthüllen und so zu fließen, wie sie es für andere zu tun schienen. Wenn Susanna ihm laut vorlas, schien sie nie zu stolpern oder sich im Dschungel der Buchstaben zu verirren. Die Wörter strömten aus ihr heraus wie Wasser, versehen mit Sinn und Betonung. Nathaniel verstand alles, was er hörte, aber mit Tinte auf Papier geschrieben, verwirrten ihn die Worte.
Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte sie ihm geholfen, sich Wörter zu merken, hatte ihm erklärt, was sie bedeuteten, und hatte ihn besser unterrichtet als jeder Lehrer, selbst besser als der liebe Mr. Chisholm. Sie würde eine wunderbare Mutter sein, geduldig und freundlich, mit einem schalkhaften Zug, von dem er hoffte, dass er ihr für den Rest ihres Lebens erhalten bliebe. Einmal, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Nathaniel seinem Tutor gestanden, dass er die Diener um ihre physische Arbeit beneidete. Mr. Chisholm hatte ihm einen ungewöhnlich strengen Blick zugeworfen und gesagt: »Gesprochen wie ein privilegierter Junge, der niemals dienen wird.«
Er hatte recht gehabt und die Scham darüber, dass er so unzufrieden mit seinem Los war, während es vielen anderen noch viel schlechter ging, quälte Nathaniel immer noch. Er wünschte sich einfach, sich nicht so falsch zu fühlen. Falsch auf so viele Arten …
Mr. Chisholm war dann schnell wieder sanfter geworden und hatte reumütig gesagt, dass der Storch ihn wohl im falschen Haus abgegeben haben musste, bevor er ihn wieder mit lateinischen Konjugationen quälte. Wenn es jemals ein nutzloses Unterfangen gegeben hatte, dann war es dieses gewesen. Er lachte trocken auf.
Der Storch.
Als Mr. Chisholm festgestellt hatte, dass Nathaniel alt genug war, um über die wahre Entstehung von Babys und über die Geburt aufgeklärt zu werden, hatte Susanna es ihm längst in allen Einzelheiten geschildert. Er wusste immer noch nicht genau, wie sie es erfahren hatte, denn die prüde Jane war nie eine Tratschtante gewesen.
Susanna.
Ging es ihr gut? Er war nicht imstande, sie zu trösten, und die Verzweiflung kehrte zurück, gemeinsam mit einer Welle der Einsamkeit, die ihn umgeworfen hätte, wenn er nicht schon auf dem Boden gekauert hätte. Wieder schloss er die Augen und Erinnerungen erfüllten seine Gedanken. Als er die Storchen-Theorie infrage gestellt hatte, hatte Susanna ihm zugeflüstert, dass sie zusehen könnten, wenn der Hengst die neue Stute schwängerte, und dass dies alles erklären würde. An diesem regnerischen, grauen Tag hatten sie sich auf dem Dachboden in eine Ecke der Scheune verkrochen, flach auf dem Bauch liegend, die Mäntel durchnässt, und sich mit Vaters aufwendig verziertem und doch völlig funktionalem Fernglas abgewechselt. Auf der Koppel hatte die Stute gewiehert und war hin- und hergerannt, bis sie schließlich in die Ecke getrieben und bestiegen wurde.
»Das hat Vater mit Mutter gemacht?«, hatte Nathaniel voller Grauen geflüstert.
Susanna hatte geschnaubt. »Nein, so machen es nur die Tiere. Frauen liegen auf dem Rücken. Aber sonst ist es das Gleiche.«
Den Hengst zu beobachten, der sich die Stute zu Willen machte, hatte Nathaniels Blut auf eine Weise in Wallung gebracht, die er nicht gekannt und nicht verstanden hatte. Als er dann irgendwann morgens in feuchten Laken aufgewacht war und sein Schwanz scheinbar beschlossen hatte, ein Eigenleben zu führen, hatte er oft Hand angelegt, das Bild des Hengstes wieder und wieder vor Augen. Kohlrabenschwarz, mit kraftvollen Hinterläufen, hatte er die bebende Stute bezwungen. Sein Glied hatte, als er sie in die Enge getrieben hatte, ungeheuer groß und dick ausgesehen, und Nathaniel hatte sich vorgestellt, wie sich dieses heiße, eisenharte Fleisch im Inneren anfühlen musste.
Als er von einem seiner älteren Cousins erfahren hatte, was Sodomie bedeutete, hatte das tief in ihm etwas Beunruhigendes aufgewühlt. Während seine Freunde der benachbarten Anwesen davon geträumt hatten, die Röcke einer Dame zu heben oder ihre sahneweißen, zarten Brüste zu berühren, war Nathaniel von den Reizen der Frauen unberührt geblieben. Nicht nur, dass er schwachsinnig war – er war obendrein ein Perverser. Es verlangte ihn nach einem Schwanz: hart, dick und unerbittlich. Manchmal reichten Regen oder Schlamm oder auch nur ein lebhafter Wind aus, um lebhafte Erinnerungen an diesen Hengst an jenem Frühlingstag wachzurufen. Da er in England lebte, war das ziemlich unberechenbar und oft geschehen.
Ihn schauderte bei dem Gedanken, ein unglückliches Mädchen zu einem Leben mit einem Dummkopf zu verdammen, der kaum zwei Wörter lesen konnte, bevor er stockte, und außerdem ein Sünder mit einem unnatürlichen Makel war. Er wusste, dass er sich bemühen sollte, seine Veranlagung zu überwinden, aber alle Versuche hatten ihn an der Aussichtslosigkeit verzweifeln lassen. Vielleicht wäre es sowohl für die arme Elizabeth Davenport als auch für ihn besser, wenn die skrupellosen Piraten zu seinem Verhängnis würden.
Sein sündhaftes Verlangen danach, sich mit Männern zu vergnügen, ja, von ihnen verzehrt zu werden, war nur umso stärker geworden, je mehr er versuchte hatte, es zu unterdrücken. Es hatte mehrere Male gegeben, als er sich Susanna voller Verzweiflung hatte anvertrauen wollen, aber er hatte ihre Zurückweisung stets zu sehr gefürchtet.
Nathaniel blinzelte. Irgendwann hatte er die Augen geöffnet, und er war immer noch in der fremden Kabine. Wenn er doch nur auf der Proud William von Susannas Schnarchen aufwachen könnte. Seine Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Gott, würde er sie jemals wiedersehen? Er konnte nicht einfach nur hier sitzen. Er musste versuchen, etwas zu tun. Irgendetwas! Mit einem Auge in Richtung Tür schlich er auf Zehenspitzen über den quietschenden Boden. Wahrscheinlich würde der Pirat für einige Zeit fortbleiben. Er hielt inne, um seine Schuhe aufzuknöpfen und seine Wollsocken auszuziehen, und warf beides in die Ecke, in der er eigentlich bleiben sollte. Erleichtert spreizte er seine Zehen auf den ausgetretenen Planken.
Als er in den Schubladen stöberte, fand er dunkle Kleidung – Hosen und Hemden. Und ein paar helle Leinenunterhosen. Keine Strümpfe oder Westen, denn was sollte ein Pirat schon damit anfangen? Nathaniel konnte einen kurzen Stich der Eifersucht auf diese Freiheit nicht leugnen. Er knöpfte seine eigene, verhasste Weste auf und warf sie ebenfalls in die Ecke. Ganz sicher war er sich nicht, wonach er suchte. Hatte er geglaubt, er würde über eine Waffe stolpern und dann … was? Am besten nicht nur den Piratenkapitän, sondern gleich die ganze Mannschaft erledigen? Trotzdem suchte er weiter.
In der Truhe befanden sich nur noch mehr Wäsche und Krimskrams. Der dunkle Schreibtisch dominierte den größten Teil der Kabine und war der Tür zugewandt, die seitlich in der Nähe des Backbordrumpfes eingebaut war.
Das Bett wiederum war in die Wand neben der Tür eingelassen. Rote Samtvorhänge waren mit gelben Troddeln auf beiden Seiten des Bettes zurückgebunden. Die einst leuchtenden Farben hatte die Sonne verblassen lassen. Dem Staub nach zu urteilen, der auf dem Samt lag, waren die Vorhänge schon seit einiger Zeit nicht mehr geschlossen oder ausgeschüttelt worden. Die Bettwäsche war zerknittert, wenn auch erstaunlich weiß. Nathaniel warf einen Blick auf seine eigene kratzige, muffige Decke.
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