An Deck inhalierte er dankbar die kalte, frische Luft. Die Sonne, die gerade am Horizont aufging, blendete ihn. Er saugte alle Bilder und Gerüche um sich herum tief in sich ein, denn die Androhung eines ganzen Monats allein in der Kabine des Captains erfüllte ihn mit einer Angst, die ihn zu verschlingen drohte. Die Beengtheit eines Schiffes war schrecklich genug. Aber so lange in diesem einen Zimmer gefangen zu sein? Sein Magen verkrampfte sich.
Er blickte sich um, sein Herz hüpfte, als er in der Ferne Segel sah. War das die Proud William? Es musste wohl so sein, denn niemand sonst beachtete das Schiff. Nathaniel schaute bedrückt zu, wie es langsam zu einem winzigen Fleck zusammenschrumpfte. Aber Susanna war in Sicherheit, und das war alles, was zählte. Er hasste es, dass sie für den Rest ihrer Reise allein sein würde, besonders in ihrem verletzlichen Zustand. Schuldgefühle stiegen in ihm auf, obwohl er wusste, dass er nicht das Geringste dagegen hatte tun können.
Er sah den Captain an, der ihn schließlich aus seinem abscheulichen Griff entlassen hatte. Die aufsteigende Sonne enthüllte seine überraschend blauen Augen, die einen Stich Grau hatten. Sein kleiner quadratischer Goldohrring blitzte.
Der Quartiermeister, ein Mr. Snell, so die schroffe Begrüßung des Captains, näherte sich. »Captain, die Männer wollen etwas von dem Salzfisch essen, den wir mitgenommen haben. Soll der Koch ihn zubereiten?«
»Aye.«
Der Gedanke an Essen ließ Nathaniels Magen knurren, aber er würde lieber verhungern, als Captain Hawk – nein, einfach nur Hawk, denn er verdiente keinen ehrenwerten Titel – danach zu fragen. Als Hawk und Mr. Snell sich ein paar Meter entfernten und so leise miteinander sprachen, dass er nichts hören konnte, begutachtete Nathaniel sein Gefängnis.
Die Damned Manta war ein Einmaster, eine Schaluppe, die wahrscheinlich ursprünglich ein Handelsschiff gewesen war. Dicke Seilrollen bedeckten das Schiff. Wenn es anfangs ein Achterdeck in der Nähe des Hecks gegeben hatte, vermutete Nathaniel, dass es entfernt worden war, um weitere Geschütze hinzuzufügen. Er zählte vierzehn um das Oberdeck herum, das vom Bug bis zum Heck etwa sechzig Fuß lang und auf der ganzen Länge flach war. Aus weiter Entfernung musste es so aussehen, als läge die Schaluppe tiefer im Wasser. Sie war wie dazu gemacht, um auf ihr zu rennen, und es juckte Nathaniel in den Füßen. Nur zu gern wäre er vom Bug zum Heck, um das massive Rad des Schiffes herum und wieder zurück gerannt.
Er war sich nicht sicher, wie viele Piraten genau an Bord waren, schätzte ihre Anzahl aber auf fünfundvierzig bis fünfzig. Es schien ein bunt zusammengewürfelter Haufen zu sein, Männer jeder Herkunft, jeden Alters und jeder Größe, einige mit langen, einige mit kurzen Haaren, einige mit sauberen Gesichtern und wieder andere mit verfilzten Bärten. Viele trugen weite Hosen. Tattoos und Piercings schmückten nackte Haut. Ein Mann in einer Lederweste hatte so viele dunkle Bilder auf der Haut, dass Nathaniel zunächst dachte, er trüge ein dunkles Hemd.
Hoch über ihnen am Mast thronte der Ausguck. Die schwarze Flagge flatterte im Wind. Sie zeigte außerdem einen weißen Raubvogel mit weit gespreizten Schwingen und einem grausamen Schnabel. Einen Seeadler, vermutete er.
Jetzt rissen die Männer an den Tauen, um die Flagge einzuholen und sie den Blicken neuer Opfer zu entziehen. Er wandte den Blick von den Segeln und der Takelage ab.
Hawk und Snell schienen über ihn zu sprechen, denn sie beäugten ihn auf eine Art und Weise, die ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen ließ. Er konnte ihre Musterung kaum ertragen und sah hinaus auf die Wellen, seine Haut kribbelte. Der Wind toste ihm in den Ohren und ihm war nicht klar, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht, dass er ihre Worte nicht verstehen konnte.
In Wahrheit hatte er den schrecklichen Verdacht, dass Hawk den Wert, den Nathaniel für seinen Vater hatte, ziemlich überschätzte. Es stimmte, dass Walter sich einen Sohn mit einer an Besessenheit grenzenden Inbrunst gewünscht hatte, zumindest war das Nathaniel immer erzählt worden. Nathaniels Onkel, der ältere Bruder seines Vaters, hatte nicht nur das Familienvermögen, das Anwesen und den Titel des Baronets geerbt, sondern auch drei stramme, intelligente Söhne gezeugt. Walter hatte es ihnen allen bitter übelgenommen und war entschlossen gewesen, einen eigenen Sohn zu zeugen, als ein Emblem und Zeichen seiner Männlichkeit.
Margaret, Nathaniels Mutter, hatte Walter zunächst Hollington eingebracht. Dann eine Tochter, Jane, die mit ihrem Mann, einem Marineoffizier, der oft auf See war, und ihren vier Kindern in Kent lebte. Als Nächstes war Susanna gekommen; noch eine Enttäuschung für Walter. So hatte er Margaret wieder und wieder geschwängert, trotz der Warnung des Arztes, dass schon die ersten beiden Schwangerschaften sie beinahe umgebracht hatten. Nathaniel wusste nicht genau, wie viele Babys sie verloren hatte, bevor sie es geschafft hatte, ihn zur Welt zu bringen.
Walter hatte endlich seinen Sieg errungen, und obwohl er nach allem, was man hörte, seine Frau aufrichtig betrauerte, argwöhnte Nathaniel, dass Walters größte Trauer darin lag, dass sein Sohn völlig darin versagte, der Sohn zu sein, den er sich gewünscht hatte. Zu sagen, dass er eine Enttäuschung war, wäre eine milde Untertreibung gewesen. Für einen Moment gestattete er sich die kindliche Sehnsucht nach der Mutter, die er nie gekannt hatte. Sie hatte ihr Leben für seines gegeben und er war sich sicher, dass das kein guter Tausch gewesen war. Er hätte auch sie sehr enttäuscht. Ein Schwachkopf und ein Sünder, das war er.
»Die Zeit ist um«, verkündete Hawk und riss ihn aus seinen auf Abwege geratenen Gedanken. Dann verengten sich die blauen Augen. »Warum siehst du so schuldbewusst aus?«
»Es ist n… nichts«.
Mit einem großen, kraftvollen Schritt überwand Hawk die Entfernung zwischen ihnen. Die Reling drückte sich in Nathaniels Rücken. Hawk beugte sich vor und überragte ihn. »Welch heroische Idee auch immer dir im Kopf herumspuken mag, vergiss es. Wenn du irgendeinen Angriff auf mich oder meine Männer versuchst oder in einer irgendwie fehlgeleiteten Vorstellung eines edlen Opfers über Bord springst, werden wir dieses Handelsschiff jagen und deine Schwester und ihr ungeborenes Kind leiden lassen. Und wie sie leiden werden. Habe ich mich klar ausgedrückt oder muss ich noch deutlicher werden?«
Nathaniel schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, sich von Hawks spöttischem Grinsen abzuwenden. Ohne Rückzugsmöglichkeit war er eingequetscht. Der Körper des Mannes vor ihm war wie eine undurchdringliche Mauer, seine Willensstärke unbezwingbar. Hawk hatte recht. Über Bord zu springen, wäre Selbstmord, und Nathaniel hatte nicht die geringste Chance, auch nur einen der Männer auf diesem Schiff zu überwältigen, ganz zu schweigen von fünfzig von ihnen. Er war gefangen.
»Noch Fragen?«
»Von wem habt ihr dieses Schiff gestohlen?« Die Wörter schossen ihm durch den Kopf und rutschten ihm irgendwie heraus. Nathaniel presste leicht verspätet die Lippen zusammen, das Blut rauschte ihm in den Ohren.
Hawk richtete sich auf, als sei er beleidigt worden. Er knurrte: »Dies ist mein Schiff. Ich habe sie bei einer Wette fair und ehrlich gewonnen. Es war dein Vater, der versucht hat, sie mir zu stehlen.«
»Ich verstehe nicht. Warum?«
Er stieß hervor: »Es spielt zwar keine verdammte Rolle, was du verstehst oder nicht. Aber nach jahrelanger Mühsal hatte ich endlich mein eigenes Schiff. Ich erwog, Handelsfracht damit zu befördern, aber ich wollte mehr für mein Land tun, obwohl …«
Nathaniel wartete ein paar Sekunden und sah, wie Hawks Kiefer sich verspannte. »Obwohl was?«
»Nichts«, spuckte er aus. »Man verlieh mir meinen Kaperbrief, der es mir erlaubte, feindliche Schiffe zu überfallen. Ich war ein stolzer Partner der Krone und bekämpfte den spanischen Herrschaftsanspruch auf die Westindischen Inseln. Ich hielt mich an die Regeln und teilte meine Gewinne. Ich war respektabel. Anständig.«
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