Thorne fand es immer interessant, wenn Leute Fragen beantworteten, die er nicht gestellt hatte. Er wartete.
»Wir sind Nachbarn, also … Sie wissen schon.« Er nahm die Hände aus den Taschen und gestikulierte beim Sprechen. »Ein paar Gramm Zucker hier, eine Rolle Klopapier da. Ab und zu leihe ich ihr meinen Rasenmäher.« Er grinste, wobei zu sehen war, wie schlecht seine Zähne waren. »Um ehrlich zu sein, lästern wir die meiste Zeit über ein paar andere Hausbewohner.«
»Was ist mit Kieron?«
Figgis schaute ihn an und wurde plötzlich sehr still. »Was soll mit ihm sein?«
»Sehen Sie ihn oft?«
»Ja, natürlich. Schließlich ist er immer bei seiner Mutter, und sie sehe ich tatsächlich oft.«
»Also ist Kieron immer mit seiner Mutter zusammen, ja? Wenn Sie ihn sehen?«
»Ja, klar, aber es ist nicht so, als würde er stören oder irgendwas. Kieron ist ein wunderbarer Junge. Sehr höflich .« Wieder kratzte er sich am Hals. »Sie haben mir noch immer nicht gesagt, worum es geht.«
»Nein.« Thorne steckte sein Notizbuch ein. »Das habe ich nicht.«
»Ist etwas Schlimmes passiert?«
»Ich fürchte, ich kann nicht in die Einzelheiten gehen, aber vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie Catrin in nächster Zeit ein bisschen … Raum lassen. Ist das in Ordnung? Vielleicht können Sie Ihren Zucker woanders leihen.«
»Absolut«, sagte Figgis.
»Das wäre mir am liebsten.«
»Was immer Sie sagen.«
»Und vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.«
»Wie Sie meinen … Gern geschehen.«
Thorne ging zum Aufzug, erinnerte sich rechtzeitig und drehte ab Richtung Treppe. Beim Umdrehen registrierte er, dass Catrin Coynes Nachbar schnell wieder hinter seiner Tür verschwunden war. Und ihn noch immer beobachtete.
Auf dem Weg zurück zum Wagen bemerkte Thorne die Telefonzelle auf der anderen Straßenseite. Er wartete auf eine Lücke im Verkehr, suchte in der Tasche nach seiner Telefonkarte und lief hinüber.
Es konnte nicht schaden, oder?
Dumm, natürlich konnte es schaden, bei anderen Gelegenheiten hatte es schon geschadet.
Fünf Minuten zuvor, im sechsten Stock des Wohnblocks, hatte Thorne sich mit einem zwar seltsamen, aber freundlichen Menschen unterhalten, der ihm keinen Anlass zu irgendeinem Verdacht geboten hatte. Und trotzdem hatte er etwas gespürt, ungebeten und hartnäckig. Einen nagenden, allzu vertrauten Schmerz. Er ließ sich nicht ignorieren, selbst wenn er es gewollt hätte. Und trotzdem wäre es ihm schwergefallen, dieses Gefühl auf eine für andere verständliche Art und Weise zu beschreiben.
Nur in seinen Träumen hatte es seinen Sinn.
Nein, Schmerz traf es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht, wenn es losging.
Als er in die Telefonzelle trat, wurde Thorne allerdings von einem höchst realen Schmerz gequält. Er beschimpfte sich als Idioten, weil er Catrin Coyne nicht gebeten hatte, ihre Toilette benutzen zu dürfen. Plötzlich fühlte er sich kurz vorm Platzen. Er biss die Zähne zusammen, rammte die Telefonkarte in den Schlitz und wählte.
»Komm schon. Himmel …«
Er wusste, dass manche Leute, wenn sie so dringend mussten wie er im Augenblick, die nächste Telefonzelle benutzten – wenn gerade kein Aufzug in Sicht war –, doch so verzweifelt war er nicht. Noch nicht.
Ajay Roth meldete sich, offenbar bestens aufgelegt.
»Wir haben gerade über Sie gesprochen«, sagte er. »Einer von Ihren Vogelfreunden hat sich gemeldet.«
»Was?«
»Von den Leuten, die Vögel beobachten. Jedenfalls behauptet er, im Alexandra Park gebe es über hundert verschiedene Arten. Heckenbraunellen und Taigabirkenzeisige zum Beispiel, was auch immer das sein soll …«
Thorne widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, dass es mit ziemlicher Sicherheit Vögel waren. Stattdessen entgegnete er: »Ajay, Sie müssen in der landesweiten Polizeidatenbank einen Namen für mich checken. Haben Sie einen Stift?«
»Ja, irgendwo …«
»Grantleigh Figgis.«
»Teufel auch, wo haben Sie den aufgetan?«
»Er wohnt direkt neben Catrin Coyne.« Thorne buchstabierte den Namen. »Haben Sie es notiert?«
»Okay, es könnte ein paar Minuten dauern. Kann ich zurückrufen?«
Thorne fragte sich, ob er genug Zeit hatte, um kurz zu verschwinden und einen Platz zum Pinkeln zu suchen, entschied sich dann aber dagegen. Roth mochte zwar ungeschickt mit Computern sein, aber so lange würde er nicht brauchen. Und Thorne wollte seinen Rückruf auf keinen Fall verpassen.
Vorsichtig trat er von einem Fuß auf den anderen und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Ein Paar tauchte auf und blieb dicht vor der Telefonzelle stehen. Die Frau schaute auf ihre Uhr und starrte ihn an. Thorne fand ein kleines Stück Fenster, das nicht mit Werbung für die Prostituierten der Gegend zugekleistert war, und hielt seinen Dienstausweis so lange vor das Glas, bis das Paar fluchend verschwand.
Er schnappte sich den Hörer noch während des ersten Klingelns.
»Jackpot«, sagte Roth. »Dieser Typ ist ihr Nachbar, sagen Sie?«
»Ja …?«
»Zuerst war ich nicht allzu enthusiastisch, denn er steht nicht auf unserer Liste, aber dafür gibt es einen guten Grund. Die Anklage wurde fallen gelassen, ehe die Sache vor Gericht kam. Also wurde er nie verurteilt. Oh, und – nebenbei bemerkt – er ist ein Junkie in der höchsten Spielklasse.«
»Ja, ich hab’s gerochen.« Thorne hatte vergessen, dass er pinkeln musste. »Was wurde ihm vorgeworfen?«
»Vor zwei Jahren wurde Grantleigh Ralph Figgis wegen sexueller Belästigung eines Minderjährigen festgenommen.« Roth ließ eine angemessen dramatische Pause folgen. »Klingt es so weit gut?«
Thorne spürte ein Kribbeln im Nacken, als würden sanfte Finger durch seine Härchen streifen. Er schauderte. »Sehr gut.«
»Dabei hab ich das Beste noch gar nicht erzählt«, fuhr Roth fort. »Sobald ich auf die sexuelle Belästigung gestoßen bin, hab ich beim Fahrzeugregister nachgefragt. Stellen Sie sich vor: Mr Figgis fährt einen roten VW Polo. Sieht dem Golf ziemlich ähnlich, meinen Sie nicht …? Wenn man auf der anderen Straßenseite steht und sich nicht gut mit Autos auskennt? Tom …?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Moment, der Boss will mit Ihnen sprechen.«
Thorne hörte ein Klappern, als der Hörer auf den Schreibtisch gelegt wurde. Ein paar Sekunden später war Gordon Boyle in der Leitung.
»Ich schätze, wir können Ihren zwielichtigen Vogelbeobachter vergessen«, sagte er. »Scheiß Heckenbraunellen hin oder her. Ich hab mit Andy Frankham über den Kerl gesprochen, den Sie aus dem Hut gezaubert haben. Er sagt, bei einem Fall, in dem die Zeit so eine Rolle spielt, reicht das, was wir bisher haben, um ihn festzunehmen.«
»Gut«, sagte Thorne.
»Ich hab schon mit den Uniformierten in der Gegend Kontakt aufgenommen. Sie schicken einen Wagen, um ihn abzuholen. Wo sind Sie?«
Thorne sagte es ihm.
»Perfekt. Sie bleiben, wo Sie sind, und wenn die Kollegen kommen, können Sie derjenige sein, der ihm die Handschellen anlegt. Wie klingt das?«
Thorne sagte nichts. Er dachte an den erschreckten Ausdruck auf dem blassen, abgehärmten Gesicht. Und daran, wie eng die Handschellen um Grantleigh Figgis’ dünne Gelenke würden sein müssen.
»Gute Arbeit, Tom«, sagte Boyle. »Wirklich gut, Mann.«
Thorne hatte kein Problem damit, in seinem Auto zu warten. Als Allererstes musste er allerdings seine Blase entleeren. Er lief die Holloway Road zurück zu der Nebenstraße, wo er geparkt hatte, und suchte verzweifelt nach einer passenden Stelle, bevor die Uniformierten eintrafen und es ernst wurde.
Er duckte sich in den dunklen Durchgang zwischen einem geschlossenen Wettbüro und einem geöffneten McDonald’s. Während der Verkehr lautstark vorbeiraste, öffnete er den Reißverschluss und dachte an die ungewohnt großzügigen Worte des DIs.
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