Sosehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen – immer wieder unterliefen ihr auf der Arbeit kleine Fehler. Und das gleich an mehreren Tagen hintereinander. Die Abteilungsleiterin hatte sie um ein Gespräch gebeten. Nervös saß sie in deren Büro und überlegte, ob sie sich als Dienstleisterin im Wellnesshotel verdingen sollte, falls ihr gleich eröffnet würde, dass sie künftig »ohne Gehaltsfortzahlung angestellt« sei. Sie wusste, dass das Wellnesshotel Personal suchte.
Die Abteilungsleiterin kam herein, ohne einen Anflug von Vorwurf im Gesicht, ganz im Gegenteil, sie plauderte einfach über dies und das. Cuilan blieb angespannt, sie spürte, dass hinter den Worten der attraktiven Mittvierzigerin eine Falle lauerte.
»Als ich jünger war, habe ich auch als Lagerverwalterin gearbeitet und es genauso wenig gemocht wie du. So ein öder Job! Ich kann wirklich gut verstehen, was dich umtreibt.«
»Wie werde ich gemaßregelt?«
»Gemaßregelt?« Die Augen der Abteilungsleiterin weiteten sich zu Bronzeglocken. »Das ist ein Missverständnis, Cuilan, du hast unser volles Mitgefühl. Wie kämen wir darauf, dich zu maßregeln?«
»Aber ich mache ständig Fehler und sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Wer macht keine Fehler, vor allem, wenn man noch jung ist? Ich weiß, dass es Männer gibt, die dir schlecht gesinnt sind, die dich am Boden sehen wollen, Cuilan, aber nicht mit mir! Geh zurück und halte den Kopf schön oben, lass dich von nichts herunterziehen.«
Die Abteilungsleiterin massierte ihr mit feisten Händen die Schultern. Eine gewisse Erotik lag in dieser Geste. Cuilan sah sie erstaunt an.
Die Frau ließ sofort von ihr ab. »Ich werde keinen Eintrag machen«, sagte sie betont ungerührt.
Cuilan verließ die Fabrik und nahm den Bus nach Hause. Die ganze Fahrt lang gingen ihr die Worte ihrer Vorgesetzten durch den Kopf und sie fragte sich, ob ihr etwas Unvorhergesehenes bevorstand. Der Gedanke beunruhigte sie, erregte sie, verlockte sie. Schließlich hatte sie ohnehin keine Lust mehr auf ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik, sie hatte auf einmal eine regelrechte Aversion gegen die immergleichen Gesichter ihrer Kollegen entwickelt.
Am selben Abend erhielt sie einen Anruf von der Abteilungsleiterin, die ihr anbot, zwei Wochen frei zu nehmen, bei voller Lohnfortzahlung. Cuilan traute ihren Ohren nicht und fragte dreimal nach, um sich zu versichern, dass sie richtig verstanden hatte. Dennoch schien die Sache ihr nicht geheuer.
»Ich will dir ein Geheimnis verraten, Cuilan. Der Mann vom Antiquitätenladen ist mein Wohltäter. Ich weiß, dass du nichts für ihn übrighast, aber er liebt dich trotzdem.« Ihre Stimme klang seltsam.
»Der liebt mich bestimmt nicht!«
»Wie bitte? Das soll wohl ein Witz sein.«
Die Abteilungsleiterin wirkte verärgert, als sie auflegte. Wortlos starrte Cuilan auf das Porträt ihrer Lieblingsschauspielerin an der Wand. Sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Alles war wie auf den Kopf gestellt. Herr You hatte dafür gesorgt, dass sie zwei Wochen bezahlten Urlaub nehmen durfte, und ihre Vorgesetzte dachte, dass er etwas für Cuilan empfand. Und da er der Wohltäter der Abteilungsleiterin war, hatte sie ihr freigegeben, anstatt sie zu maßregeln. Was hatte das zu bedeuten? Die Welt schien wirklich auf dem Kopf zu stehen.
Da Cuilan nun einmal zwei Wochen frei hatte, dachte sie, dass sie Wei Bo besuchen gehen sollte; er war schließlich der einzige Mensch, der ihr etwas bedeutete. Allein der Gedanke daran, wie unangenehm der letzte Besuch verlaufen war, ließ sie jedoch zögern. Zwar glaubte sie, Wei Bo zu lieben, doch sein Benehmen war ihr unangenehm. Die Untersuchungshaft hatte ihn anscheinend zu einem anderen Menschen gemacht, obszön und grob wie ein Tier. Wenn jemanden zu lieben hieß, ihn bedingungslos zu akzeptieren, bedeutete das dann tatsächlich, ein solches Tier lieben zu müssen? Früher hätte sie sich schon beim Gedanken daran selbst verachtet. Fräulein Si von der Baumwollfabrik kam ihr wieder in den Sinn. War Wei Bo auch zu ihr so gewesen?
Jemand klopfte an der Tür.
Es war ihr Exfreund Xiao He. »Ich will dich nicht stören, aber ich muss dir etwas sagen.« Er lächelte beschwichtigend. »Wei Bo wird in das Untersuchungsgefängnis am Berg Lishan verlegt. Er ist schon unterwegs, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wei Bo machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Ruf an und überzeuge dich selbst, die Nummer ist zwei zwei acht eins fünf drei.«
Cuilan bat ihn herein. Sie war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte.
Umstandslos ließ Xiao He sich auf einen Stuhl fallen. Cuilan wusste, dass er den Bemitleidenswerten mimte, und blieb unbeeindruckt.
»Der Lishan ist kalt und verlassen. Dort heulen die Wölfe, so wild ist es.«
»Ich habe das Geld bekommen, das du geschickt hattest. Zwanzigtausend Yuan.«
»Das freut mich. So, ich muss wieder los. Schreib dir die Telefonnummer auf, zwei zwei acht eins fünf drei.«
»Du solltest dir nicht den Kopf mit einem Haufen Zahlen zukleistern, das bekommt dir nicht. Ist das derselbe Lishan, an dem wir einmal zusammen waren?«
»Ganz genau.«
Er ging und hinterließ einen Hauch von Wildnis.
Es war schon einige Jahre her, dass Cuilan und Xiao He sich zusammen in der Stadt herumgetrieben hatten, auf den Märkten, in Imbissbuden und Cafés oder mit Freunden zum Essen in kleinen Restaurants. Damals war Cuilan viel unbeschwerter gewesen, nicht so sorgenvoll wie heute. Ihre Beziehung zu Xiao He hatte ein Jahr lang gehalten, und im Spätherbst jenes Jahres waren sie mit dem Bus zum Lishan gefahren.
Der Lishan war weitgehend baumlos, ein Berg voller Felsen und Geröll. Sie hatten am Fuß des Bergs gestanden und nach oben gesehen, wo der Gipfel im Wolkendunst verschwand. Xiao He hatte gesagt, dass es dort Wölfe gebe, weshalb sie um den Berg herumwanderten, beide zu ängstlich, um sich hinauf zu wagen. Seltsamerweise lagen am Fuß des Lishan weder Dörfer noch Bauernhöfe. Jetzt schien der Berg plötzlich aus dem Nichts vor dem Besucher aufzuragen. Westlich befand sich ein Streifen Brachland.
Sie gingen schweigend nebeneinander, ihre Gedanken waren leer. Cuilan gefiel der mäandernde Pfad, dem sie folgten. Sie fragte sich, wer ihn wohl ausgetreten hatte in seiner kontinuierlichen Gleichmäßigkeit, einmal rings um den Berg, weder besonders lang noch besonders kurz.
Ein kühler Wind blies ihnen ins Gesicht, bald würde die Sonne untergehen. Hand in Hand machten sie sich auf den Rückweg. Immer wieder drehte sich Cuilan nach dem Berg um, aber sein Gipfel blieb stets in den Wolken verborgen. »Wie kommt es, dass es hier einen Pfad gibt?«, fragte sie schließlich Xiao He.
»Das habe ich mich auch gefragt. Es muss vor uns schon viele hierher gezogen haben. Während unseres Spaziergangs hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, am Mittelpunkt der Welt zu sein. Meine Arbeit als Verkehrspolizist und das alles kommt mir jetzt so verdammt lächerlich vor.«
Danach war Cuilan nie wieder zum Lishan zurückgekehrt und hatte den Ort bald ganz vergessen.
Xiao He dagegen hatte den Ausflug im Gedächtnis bewahrt.
Jetzt überkam sie der starke Wunsch, mit jemandem über den Lishan zu reden. Sollte sie die Nummer anrufen? Vielleicht wollte Xiao He sie täuschen. Dieser Polizist mit seinen verschlagenen Winkelzügen war für Cuilan schon immer schwer durchschaubar gewesen. Genau das hatte sie angezogen. Wenn sie darüber nachdachte, musste sie feststellen: Jeder seiner Vorschläge war alles in allem eine gute Wahl gewesen.
»Hallo, ist dort das Untersuchungsgefängnis Nummer drei?«
»Wieso rufen Sie hier mitten in der Nacht an? Sie sprechen mit dem diensthabenden Wachmann. Was gibt es?«
»Sitzt Herr Wei Siqiang bei Ihnen in Haft?«
»Wir haben hier jemanden dieses Namens, ja. Was wollen Sie von ihm? Ach, Sie sind Cuilan, richtig?«
Читать дальше