Cuilan kam nach Hause zurück. Und am darauffolgenden Tag erschien Wei Bo.
Sie war gerade am Putzen und hockte rittlings auf dem Fenstersims, um die Scheiben zu wienern. Der Geruch nach Sauberkeit und Frische war belebend. Da trat völlig unvermittelt und grußlos Wei Bo ins Zimmer. Er schnappte sich den Wischmopp und machte sich daran, den Boden zu wischen.
»Warst du in meiner Heimat, um dort auf dem Brachland Gras abzubrennen?«, fragte sie leise.
»Mhm.«
»Du kennst also meinen Cousin schon seit einer ganzen Weile?« »Deine Heimat ist wirklich wunderschön.« »Warum bist du hier?«
»Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ich bin einfach gekommen. Wohin soll ich schon gehen in dieser engen Stadt?«
Sie kochten zusammen Rindfleisch mit Kartoffeln und ließen es sich schmecken.
Dann fragte Cuilan ihn, ob er ihren Vierten Onkel getroffen habe.
»Er hat kein Zuhause, aber er ist sehr begabt darin, Löcher in die Erde zu graben. Den ganzen Tag über streunt er mit dem Werkzeug auf dem Rücken durch die Gegend, bis er eine passende Stelle gefunden hat, wo er sich dann, ganz gleich, ob es sich um Ödland oder Felsgestein handelt, in nur zwei Stunden ein Versteck gräbt.«
»Und du warst mit ihm in so einer Höhle?«
»Ja, war ich. Wir konnten uns gegenseitig atmen hören. Dein Vierter Onkel hat eine beruhigende Wirkung auf andere. In deiner Familie gibt es einige von seiner Art.«
Wei Bo redete noch über dies und jenes, bis ihm beim Reden die Augen zufielen und er schließlich quer über dem Esstisch lag und schnarchte. Die vergangenen Tage müssen sehr anstrengend für ihn gewesen sein , sagte sich Cuilan.
Mit Mühe gelang es ihr, ihn ins Bett zu legen. Dort betrachtete sie ihren Liebhaber mit einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Erregung. Der riesige, finstere Kampferbaum kam ihr in den Sinn. Ob er sie insgeheim beschützte? Welcher Natur war dieser Schutz?
Als Wei Bo aus dem Schlaf erwachte, hatten sie wunderbaren Sex, noch viel besser als zuvor, wenn sie schweißgebadet ihre Körper umschlungen hatten. Trotzdem überkam Cuilan furchtbare Angst. Sie hatte das Bild des widerlichen, herausgeputzten Antiquitätenprüfers You vor Augen. In welchem Verhältnis stand er zu Wei Bo? Waren sie sich vielleicht so nah wie Brüder? Sie kicherte.
»Denkst du an einen anderen Mann?«, fragte Wei Bo und sah sie forschend an.
»Nein. Es gibt da diesen Mann, der mir nachstellt, aber allein von seinem Anblick wird mir schlecht.«
»Was ist schon dabei? Jeder hat doch irgendetwas an sich, von dem anderen schlecht werden kann.«
Es war schon nach Mitternacht. Dennoch zog Wei Bo sich an und sagte, er müsse nach Hause. Cuilan fixierte ihn und wollte etwas sagen, ließ es aber bleiben. Stattdessen sagte sie etwas, von dem sie selbst überrascht war.
»Ach, Wei Bo, wie konnte ich dir bloß in diesem Kaff begegnen? Ich habe so lange mit dicken Sträußen von Beifuß die Mücken ausgeräuchert, bis du ebenfalls ausgeräuchert warst. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt mein Heimatort war, denn er wirkte so fremd auf mich. Als ich dich gesehen habe, hast du am Horizont dieses Feuerrad angeschoben. Du hast gelitten, oder?«
Sie sprach nicht weiter und starrte vor sich hin.
»Ich habe nicht gelitten. Wie könnte ich in deiner Nähe leiden? Das Rad war brennend heiß und nicht einfach zu rollen, aber die Landluft hat jede einzelne Pore meiner Haut geöffnet! Ganz zu schweigen von den Höhlen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für wunderbare Vorzüge sie haben!«
Leise schloss er die Tür und ging.
Cuilan hörte sich rufen:
»Herr You! Herr You!«
Dann kam sie zur Besinnung und erschrak. Angestrengt versuchte sie sich Wei Bo zusammen mit dem Vierten Onkel in einer Höhle vorzustellen. Was waren das für Höhlen? Beim nächsten Mal würde sie sich erst zufriedengeben, wenn sie sich selbst ein Bild davon gemacht hatte. Warum nur hatte sie nicht mit dem Vierten Onkel reden wollen, als er vor dem Fenster nach ihr gerufen hatte?
Nachdem sie von ihrem Ausflug auf das Land zurückgekehrt war, suchte Cuilan aus Langeweile wieder das Wellnesshotel auf. Dort herrschte nicht viel Betrieb, am wenigsten im Frauenbad. Ganz allein saß sie im Becken. Ein paar farbenfrohe, zierliche Fische schwammen um sie herum, doch es konnte sich auch um eine bizarre Halluzination handeln. Als wäre sie weit weg, in einem exotischen Land. In ihren schlaftrunkenen Zustand hinein drang eine leise, aber unnachgiebige Stimme an ihr Ohr.
»Cuilan! Cuilan, wie konntest du mich vergessen?«
Träge öffnete sie die Augen, richtete sich auf und drehte sich um die eigene Achse, um das Becken abzusuchen. Das ganze Bad hatte etwas von einer verlassenen, beleidigten Frau. Sie konnte sogar ein sanftes Schluchzen hören, das immer wieder versiegte und dann neu einsetzte, das Weinen einer jungen Frau.
»Wer treibt hier sein Spiel mit mir?«, rief Cuilan erbost.
Wer war das? Niemand. Verärgert machte sie sich auf den Weg zur Umkleide.
Auch als sie dort herauskam, war keine Menschenseele zu sehen. Erst kurz vor der Rezeption erklang ein lautes Lachen. Ach, Long Sixiang und ihre Kollegin! Die beiden, grell geschminkt und stark parfümiert, hatten offenbar ihre Arbeit in der Baumwollfabrik aufgegeben und waren wirklich zu Prostituierten geworden. Cuilan fand sie ein bisschen alt für dieses Gewerbe, aber nach außen traten die Frauen sehr selbstbewusst auf. Gerade flirteten sie mit einem Mann, der mit dem Rücken zu Cuilan stand. Als er sich umdrehte, erkannte sie Herrn You.
»Long Sixiang ist meine Geliebte«, sagte er mit schmieriger Stimme. »Nicht erst seit ein oder zwei Jahren … Wir kennen uns seit mehr als zwei Jahrzehnten. Jetzt, wo sie ihren neuen Job hat, ist sie wieder sehr anziehend für mich.«
Er ließ sich mit Long Sixiang auf ein Sofa plumpsen, den Arm um ihre Schultern gelegt. Die andere Frau wollte nicht außen vor bleiben und zwängte sich dazu. Nun hatte er rechts und links eine Frau im Arm.
Cuilan beeilte sich, hinauszukommen. »Wohin so eilig, Frau Niu? Ich habe Ihnen etwas zu sagen!«
Er rannte ihr hinterher und erwischte sie kurz vor dem Ausgang. Sie sah ihm in sein hochrot angelaufenes Gesicht. »Was sollten Sie mir schon zu sagen haben?«
»Es ist sehr wichtig«, sagte er und senkte verschämt den Kopf.
Der aufdringliche Geruch seines Parfüms ließ Cuilan die Stirn runzeln. Mit einer Stimme, die ihr nicht zu gehören schien, antwortete sie: »Gut, gehen wir hinüber ins Teehaus und suchen uns einen Tisch.«
»Wunderbar, danke!«
Sie nahmen in der kleinen Teestube Platz. Herr You wirkte extrem nervös, seufzte ständig und reckte immer wieder den Hals, um sich nach allen Seiten umzusehen. Irgendwann hatte Cuilan genug und erhob sich. »Haben Sie mir nun etwas zu sagen oder nicht? Sonst gehe ich eben.«
Wie aus einem Traum erwacht bedeutete Herr You ihr mit einer Geste zu bleiben.
»Ich fürchte, es wird etwas länger dauern, alles zu erklären, Frau Niu. Vor vielen Jahren habe ich mit Ihren Eltern eine Abmachung getroffen. Sie selbst wissen nichts davon, aber ein paar Leute aus ihrem Heimatort schon. Nachdem Ihre Eltern gestorben waren, fiel es mir schwer, es zur Sprache zu bringen. Ich wollte nicht herzlos erscheinen. Doch jetzt sind Sie eine alleinstehende Frau, da sollte es nicht unziemlich wirken, wenn ich Sie umwerbe, nicht wahr?«
»Versuchen Sie es nur!«
»Immer mit der Ruhe. Ich habe nicht vor, unverschämt zu werden. Worauf ich hinauswollte, ist … Ich bin an Ihnen interessiert, weil sie aus jenem Ort stammen.«
»Was hat es mit meinem Heimatort auf sich?«
»Das lässt sich nicht so schnell erklären. Wie soll ich sagen … Ich war schon in vielen abgelegenen Gegenden, aber noch nie habe ich ein Dorf gesehen, das sich derart rasant verändert. Natürlich sind es ganz gewöhnliche kleine Bauernhöfe, mit großen Wasserbottichen und dem großen Steinmörser zum Reismahlen im Hof und den Flächen zum Trocknen des Getreides vor den Toren. Doch wer einmal dort gewesen ist, für den verliert sein bisheriges Leben an Bedeutung.«
Читать дальше