1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Als sie Herrn You über ihren Heimatort reden hörte, fand Cuilan sein Äußeres immer weniger affig und schmierig. Er wirkte jetzt mehr wie ein etwas verstörter Intellektueller. Vor einiger Zeit war sie mit einem Mann zusammen gewesen, der ausgesprochen gebildet, aber keineswegs verstört war. Eins schien ihr unbegreiflich: Wie hatten ihre Eltern darauf kommen können, dass sie und Herr You ein schönes Paar abgeben würden? Cuilan sah sich selbst als einfache, geradlinige Frau, und so waren auch ihre Eltern gewesen. Von Menschen vom Schlag eines Herrn You waren sie so weit entfernt wie Himmel und Erde. Manchmal verstand man die Welt nicht mehr. Ausgerechnet dieser oberflächliche Typ sollte ein unerklärliches Interesse an ihrer ländlichen, eintönigen Heimat haben?
»Mein Heimatort scheint einen ziemlichen Eindruck auf Sie gemacht zu haben«, spottete Cuilan.
Herr You sah sie an, seine Stirn umwölkte sich. Nun saß er vor ihr und sagte kein Wort mehr, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen, plötzlich wieder ein ganz anderer Mensch.
Sie trennten sich mit einem unguten Gefühl.
Für Cuilan war der Vorfall so beängstigend, dass sie es unbedingt vermeiden wollte, diesem Kerl wiederzubegegnen. Womöglich war er geistesgestört. Obwohl er offensichtlich Long Sixiangs Geliebter war, wunderte sie sich, was die beiden miteinander verband. Und dann redete er von ihren Eltern, die niemals auf die Idee gekommen wären, sie einem Geistesgestörten zu versprechen. Irgendwann beschloss sie, einfach nicht mehr darüber nachzudenken.
Dennoch fühlte sie sich unbehaglich beim Gedanken an ihren nächsten Besuch im Wellnesshotel. Immer wieder könnte sie dort auf Leute wie Herrn You oder Long Sixiang treffen, die sie in Dinge verstrickten, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Eine alleinstehende Frau wie sie hatte jedoch nur wenig andere Möglichkeiten, die Zeit totzuschlagen. Um die dröge Langeweile etwas erträglicher zu machen, begann sie einen Stickkurs und fabrizierte ansehnliche Stickereien. In ihrer Einsamkeit spürte sie die traurige Trostlosigkeit des Alters heranziehen. Verflossene Liebhaber erschienen vor ihrer Tür und riefen nach ihr, doch sie saß drinnen und rührte sich nicht.
Eines Nachts, ein heftiger Sturm tobte und Cuilan lauschte dem Klang des Regens, erinnerte sie sich an die zusammenhang losen Worte ihres Cousins: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen und meinte jetzt zu begreifen, was der Satz zu bedeuten hatte. Nach diesem Prinzip sollte der Mensch leben, dachte sie, ganz egal, ob in der Stadt oder auf dem Land.
Ihr war zuvor nicht klar gewesen, dass Wei Bo jemand war, der ähnlich dachte wie sie selbst. Sie ließ die Beziehung wiederaufleben.
»In welchem Jahr hattest du zum ersten Mal Kontakt mit meiner Familie?«, fragte sie Wei Bo.
Er verdrehte die Augen. »Schwer zu sagen«, antwortete er schließlich. »Ich habe das Gefühl, deinen Cousin und deinen Vierten Onkel schon immer zu kennen, ohne mit ihnen Umgang gehabt zu haben. Sag mal, Cuilan … Sollte ich eines Tages im Gefängnis landen, würdest du dann weiter an mich denken?«
»Natürlich würde ich das. Aber du wirst doch nicht im Gefängnis landen, oder?«
»Das denkst du. Ich fürchte, ich habe das Gesetz gebrochen.«
Cuilan fragte nicht weiter, es erschien ihr unangemessen, ihn zu bedrängen. Sie war schon nicht mehr dieselbe Cuilan wie zuvor.
Bald darauf kam Wei Bo tatsächlich ins Gefängnis.
Sie saßen im Park, als plötzlich die Polizei auftauchte. Wei Bo redete weiter mit Cuilan, während er schon aufstand und zu den Polizisten ging. Er streckte die Hände aus, damit sie ihm Handschellen anlegten.
»Was tun Sie da? Warum verhaften Sie ihn?« Cuilan geriet vollkommen außer sich.
»Er gehört einem Verbrechersyndikat an«, sagte der junge Polizist.
Dann führten sie ihn ab. Er wirkte dabei fröhlich und erleichtert, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.
Wieder zu Hause, brach Cuilan in lautes Schluchzen aus. Erneut war sie einsam und allein. Dabei hatte sie sich gerade erst dazu entschlossen, der Beziehung mit Wei Bo eine echte Chance zu geben. Natürlich würde sie ihn ab und zu im Gefängnis besuchen können. Dieser Mensch hatte irgendetwas Besonderes, das sie nicht zu benennen vermochte. Ob es etwas mit seinem Geruch nach Absinth zu tun hatte?
Ach, Wei Bo , dachte sie. Wenn du krumme Sachen machst und sogar mit einer Bande von Kriminellen zu schaffen hast, warum fängst du dann eine Beziehung mit mir an? Wenn ich dir nicht reiche, um deine speziellen Vorlieben zu befriedigen, warum verschwendest du dann meine Zeit?
Durch ihren tränenverschleierten Blick betrachtet, kamen ihr ihre Gefühle auf einmal unaufrichtig vor. Sofort hörte sie auf zu weinen.
Kaum waren die Tränen versiegt, kam ihr Herr You in den Sinn. Was hatte sie an sich, das einen aalglatten Dandy wie ihn anzog? Sie hatte solche Typen nie ausstehen können. Jetzt machte der Gedanke an Herrn You sie neugierig, sie fand ihn sogar anregend. Seit ihrem Besuch auf dem Land schien sie sich gründlich verändert zu haben.
Zu gerne hätte sie Herrn You provoziert, ihn dazu gebracht, ihr seine Geheimnisse zu offenbaren. Vor allem wollte sie endlich Klarheit über die Frage, ob er tatsächlich ihre Eltern gekannt hatte, und wenn ja, warum sie einander dann nie vorgestellt worden waren. Wenn nein – woher wusste er von ihren Eltern und ihrem Heimatort?
Spontan griff sie zum Telefon und wählte Long Sixiangs Nummer. »Sixiang, wo bist du gerade?«
»Da, wo ich immer bin, mit einem Kunden. Du kennst ihn.« »Herr You?«
»Wer sonst? Warte, ich gebe ihm das Telefon.«
»Hallo Frau Niu. Seien Sie nicht traurig«, hörte sie Herrn Yous schmierige Stimme sagen, »es gibt so viele andere. Mich zum Beispiel, wie wärs mit mir?«
»Das habe ich auch gerade gedacht.«
»Na wunderbar, wer weiß, ob nicht endlich zwischen uns die Funken sprühen!«
Seine Worte gingen ihr lange im Kopf herum. Doch, er redete wie ihr Vater. Cuilan hatte schon immer den Verdacht gehegt, eine dunkle Vergangenheit zu haben, und aus genau diesem dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit war dieser Mensch getreten. Jemand, der sich nicht einordnen ließ.
Ihr Vater war immer ein schweigsamer Mann gewesen. Nie hatte sie ihn wirklich zu begreifen gelernt, es war unmöglich gewesen, seine wahren Gedanken zu erraten. Ihr Verhältnis war mal besser, mal schlechter gewesen, doch selbst zu Zeiten, in denen sie sich nahestanden, hatte Ciulan den Eindruck gehabt, dass sie beide, sie selbst genauso wie ihr Vater, sich einander verschlossen und nie ihr wahres Gesicht gezeigt hatten. Dieses Gefühl kannte sie seit ihrer Kindheit; vielleicht lag es daran, dass sie beide nicht wirklich zufrieden mit sich waren und gern ein anderer Mensch gewesen wären. Mit dem Älterwerden hatte sie begonnen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Heute war sie der Meinung, dass der Mensch dazu neigte, ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, mit dem er andere zum Narren hielt, weil die Wahrheit zu schrecklich, zu unerträglich war. Offenbar waren ihr Vater und sie sich in diesem Punkt sehr ähnlich. Woraus sie schloss, dass auch sie anderen ein verzerrtes Bild von sich vermittelte. Da war zum Beispiel diese frühere Kollegin, die manchmal in Cuilans Nähe gestanden und sie lange schweigend gemustert hatte. Nie bekam Cuilan von ihrer Vorgesetzten eine Rückmeldung zu ihrer Arbeit – oder bestand die Rückmeldung genau darin? Im Grunde kümmerte sich Cuilan nicht darum, was andere von ihr dachten, doch diese Ungewissheit machte sie ein wenig nervös. Was, wenn eines Tages eine giftige Schlange aus dem undurchsichtigen Gebüsch kroch?
Wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrem Vater. War Herr You vielleicht die giftige Schlange? Hatte ihr Vater wirklich eine Vereinbarung mit ihm getroffen? Wenn es eine solche Vereinbarung gab, dann war sie ohnehin absurd, denn ihr Vater hätte genau gewusst, dass Cuilan sich von ihm nicht in ihr Leben hineinreden lassen würde. Sie hatte ihn auch vor ihrer Hochzeit nicht um Erlaubnis gefragt. Als sie ihm ihre Absicht kundgetan hatte, hatte ihr Vater kein Wort gesagt. Reden war nicht seine Sache gewesen.
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