Can Xue
Liebe im neuen Jahrtausend
Aus dem Chinesischen von Karin Betz
Mit einem Nachwort von Eileen Myles
Eins: Cuilan und Wei Bo
Zwei: Wei Bos Affäre mit Ah Si
Drei: Long Sixiangs Suche nach sich selbst
Vier: Wei Bos Frau Xiao Yuan
Fünf: Der Antiquitätengutachter
Sechs: Die Welt aus der Sicht des Doktors
Sieben: Wei Bo im Gefängnis
Acht: Polizist Xiao Hes unerwiderte Liebe
Neun: Lehrjahre der Gefühle
Zehn: In Chao
Elf: Die tapfere Ah Si
Eileen Myles: Inside Can Xue
Die Witwe Niu Ciulan stand noch vor Tagesanbruch auf, um sich zu waschen und zurechtzumachen, denn sie erwartete an diesem Tag Besuch von ihrem Liebhaber Wei Bo. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, ihrer Meinung nach das beste Alter für eine Frau. Ihr Mann war vor acht Jahren gestorben. Wei Bo war achtundvierzig und arbeitete in einer Seifenfabrik, war aber für einen einfachen Arbeiter ziemlich kultiviert.
Cuilan und Wei Bo hatten sich vor einem Jahr kennengelernt, in einem Wellnesshotel, in dem man auch sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnte. Cuilan war dort ausschließlich zum Besuch der Thermalbäder hingegangen. Nachdem sie sich genüsslich im Bad entspannt hatte, stieg sie gemächlich aus dem Becken und ging sich umziehen. Es war noch früh am Tag. Geisterhaft bewegten sich die Badegäste durch die wabernden Dampfschwaden, und immer wieder stießen Männer sie anzüglich mit dem Ellbogen an. Angewidert spuckte Cuilan hinter ihnen auf den Boden.
In diesem Augenblick erhaschte sie einen Blick auf Wei Bo, der ein fliederfarbenes Sporttrikot trug. Einer von diesen erbärmlichen Fremdgehern , dachte Cuilan. Es war offensichtlich, was er hier suchte. Verächtlich schnaubte sie durch die Nase und fragte sich, was dieser Kerl sich wohl dabei dachte, hier im Sporttrikot herumzulaufen.
Als sich dann ihre Schultern in dem engen Korridor berührten (er war auf dem Weg zum Bereich mit den speziellen Dienstleistungen), stieß sie ihm hart den Ellbogen in die Rippen, so hart, dass er aufschrie und gegen die Seitenwand taumelte.
Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Kerl, einer, der zu Prostituierten ging, Cuilans Liebhaber werden sollte? Später gestand ihr Wei Bo, dass er wegen Sex im Wellnesshotel gewesen sei, doch anders als sonst sei sein Verlangen hinterher noch nicht gestillt gewesen. Etwas habe ihn durcheinandergebracht, und es habe nicht lange gedauert, bis ihm klar geworden sei, was es gewesen war. Schnurstracks war er zur Rezeption gegangen, um Cuilans Adresse herauszufinden, und hatte sich bis zu ihrer Wohnung durchgefragt. Ohne Umschweife waren die beiden Experten übereinander hergefallen und hatten sich so lange vergnügt, bis sie erschöpft und schweißgebadet voneinander abgelassen hatten.
Wei Bo hatte Familie. Und er hatte nicht wenige zwielichtige Einkommensquellen, die ihm gelegentliche Ausflüge in gewisse Etablissements gestatteten. Er war ziemlich potent und in sexuellen Dingen erfreulich bewandert. Cuilan war mit dieser neuen Situation zunächst sehr zufrieden, so zufrieden, dass sie ihre anderen Liebhaber unverzüglich zum Teufel jagte und sich leidenschaftlich ihrer neuen Flamme hingab. Seine sonstigen Qualitäten waren zwar nicht unbedingt zum Verlieben, aber als Liebhaber genügte er ihr vollauf. Eine Frau hatte ihrer Ansicht nach ein Recht auf ein erfülltes Sexualleben. Üblicherweise stattete ihr Wei Bo zwei- bis dreimal im Monat einen Besuch ab.
Im Lauf der Zeit fing sie an, ihn als eine Art heimlichen Ehemann zu betrachten. Cuilan war eine ausgesprochen unabhängige Frau, ein heimlicher Ehemann ließ sich bestens mit ihren Vorstellungen vereinbaren. Was war schon dabei, sich ein bisschen Vergnügen zu gönnen?
Eigentlich hieß er Wei Siqiang – Herr Wei mit den vier Stärken – ein ungewöhnlicher und ungewöhnlich vulgärer Vorname. Genauso ungewöhnlich war sein Verhalten, das schon immer eher das eines alten als das eines jungen Mannes gewesen war, daher hatte ihn jeder bereits mit dreißig nur noch »Bo« genannt, Onkel. Cuilan mochte es, ihn ebenso zu nennen. Wei Bo.
Sie schlang ihr Frühstück hinunter und machte sich daran, ihre Dreizimmerwohnung zu putzen, bis die beiden Schlafzimmer und das Wohnzimmer auf Hochglanz poliert waren. Dann zog sie noch einmal den Lidstrich nach. Ohne ersichtlichen Grund war sie unruhig und schreckte auf, sobald sie auf dem Flur Schritte hörte. Doch jedes Mal waren es nur die Nachbarn. Sie schämte sich für ihre Nervosität, das war eigentlich unter ihrer Würde. Schließlich war sie nie der Typ Frau gewesen, der sich albern wie ein kleines Mädchen bei Männern anbiederte. Sie ging zum Kühlschrank und nahm ein paar Mangos heraus, wusch sie, schälte sie und aß sie, bis ihre Hände und ihr Gesicht völlig verschmiert und ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ruiniert waren. Was sprach schon dagegen, Wei Bo die wahre Cuilan zu zeigen?
Erst gegen Mittag klopfte es zaghaft an ihrer Tür. Er war es. Argwöhnisch fragte sie sich, warum sie gar keine Schritte gehört hatte. Ob Wei Bo sie zum Narren halten wollte? Sie musterte ihn, dachte an die höllischen Qualen, die sie den ganzen Vormittag über erlitten hatte, und brachte kein Wort heraus.
»Hallo Cuilan, ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich wieder wegmuss. Bei mir zu Hause ist etwas nicht in Ordnung.«
Er wirkte vollkommen ehrlich.
»Das hättest du mir doch auch am Telefon sagen können«, bemerkte Cuilan verwirrt.
»Am Telefon?« Er schien nicht weniger verwirrt. »Wie denn das? Das wäre respektlos. Wir sind doch schließlich ein Paar. Ich liebe dich!«
Er hatte gesagt, dass er gleich wieder gehen müsse. Und er ging.
Wie in einem Traum saß Cuilan reglos am Tisch. Seit dem frühen Morgen war sie ein einziges Nervenbündel gewesen. Ihr Verhalten gab ihr selbst Rätsel auf. Immer wieder hatte sie in den Spiegel gesehen, gleich zweimal hatte sie sich hastig eine neue Frisur gemacht und ihr Make-up komplett wieder abgewischt und neu aufgetragen. Und das alles für eine zweiminütige Stippvisite dieses Mannes. Er hatte ziemlich durcheinander gewirkt, ihr nicht einmal in die Augen gesehen. Etwas wirklich Gravierendes musste passiert sein. Aber Cuilan hatte keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sie hielt sich jeden Ärger so weit wie möglich vom Hals. So ein verdammtes Pech. Ein ganzer freier Tag vergeudet, für nichts und wieder nichts. Morgen musste sie wieder in die Messinstrumentefabrik, wo sie als Lageristin arbeitete.
Am darauffolgenden Tag machte Cuilan Überstunden und kam erst spät von der Arbeit nach Hause, weshalb sie, statt zu kochen, lieber in einem kleinen Nudelladen namens Himmel auf Erden zu Abend aß. Er lag gleich bei ihr um die Ecke. Nur wenige Kunden waren um diese Uhrzeit im Himmel auf Erden , und die verließen schon bald nach ihrem Eintreten das Lokal. Sie saß allein in einer Ecke, was ihr nur recht war. Doch schnell war es mit ihrer Ruhe vorbei.
Scheppernd wurde die Glastür des Lokals aufgestoßen und herein trat ein geschniegelter Beau. Cuilan kannte ihn, er war ein namhafter Gutachter für Antiquitäten und Wertgegenstände, jemand, der sich sonst nicht so ungehobelt benimmt. Der Mann, sein Familienname war You, nahm ungefragt ihr gegenüber Platz. Cuilan starrte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war müde und nicht in bester Laune.
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