SUSAN TAUBES
Nach Amerika und zurück im Sarg
Roman
Mit einem Vorwort von Sigrid Weigel und einem Essay von Leslie Jamison
Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Miller
Vorwort
Kapitel I
Kapitel II
Die Apfel-Szene
Tod des kleinen Samuel
Wie alte Frauen in Galanta auf der Straße urinierten
Vaters Gang vom Haus zur Synagoge
Großvater, der berühmte Reb Simon von Nyitra
Privatgespräche
Meine ersten Pfennige
Warum sie meinen Vater verfolgten
Budapest
Erste Eindrücke der ungarischen Hauptstadt
Mein »Schlüsselerlebnis«
Mein erstes Einkommen aus der »Psychotherapie«
Der Traum meiner Mutter, den sie einen Monat nach Vaters Tod sah
Kapitel III
Kapitel IV
Das freischwimmende Ich
Als Susan Taubes’ faszinierender Roman 1995, vor 26 Jahren, erstmals in deutscher Übersetzung in diesem Verlag veröffentlicht wurde, war die Autorin gänzlich unbekannt. Um sie dem deutschsprachigen Publikum nahezubringen, wurde sie damals als erste Frau des jüdischen Religionswissenschaftlers Jacob Taubes vorgestellt. Weitere 26 Jahre zuvor war der Roman in New York unter dem Titel Divorcing herausgekommen. Der Verlag hatte sich für diesen Titel entschieden, entgegen dem von der Autorin favorisierten, der nun für diese Neuausgabe gewählt wurde. Divorcing erschien eine Woche vor dem Freitod der Autorin und zwei Jahre nach Abschluss ihres eigenen Scheidungsverfahrens. Insofern war es naheliegend, den Roman als autobiografisches Zeugnis zu lesen. Dem widerspricht jedoch die in jeder Hinsicht radikale Schreibweise, die alle genreüblichen Konventionen durchbricht und ein intelligentes Spiel mit etablierten Erzählmustern und mit den Rollenreden traditioneller sozialer Rituale treibt. Denn Taubes’ Roman ist aus der Perspektive einer Toten gestaltet, der Erzählerin Sophie Blind: »Es ist eine Tote, die erzählt.« Mit diesem Satz erläutert Sophie im zweiten Kapitel ihrem früheren Geliebten Ivan das Buchprojekt, an dem sie gerade arbeitet, und kommentiert dessen Konzeption mit den Worten: »Jetzt, da ich tot bin, kann ich endlich meine Autobiografie schreiben.« Da der Roman mit dem Erwachen von Sophie Blind nach ihrem tödlichen Unfall einsetzt, sind wir als Leser mit den Erfahrungen, Träumen und Schrecknissen einer Untoten konfrontiert. »Der Schmerz des Erwachens ist unverwechselbar.«
Bei Roland Barthes heißt es zur »Schreibweise des Romans«: »Der Roman ist ein Tod; er macht aus dem Leben ein Schicksal, aus der Erinnerung einen nützlichen Akt und aus der Dauer eine gelenkte bedeutungsvolle Zeit.« Dementsprechend wäre Susan Taubes’ Buch ein Anti-Roman, der die Struktur des autobiografischen Romans verkehrt: nicht Erinnerung der Lebensgeschichte als Vermächtnis der Erzählerin, sondern deren Tod als Voraussetzung des Romans. Eine ähnliche »Lösung« entwirft Ingeborg Bachmanns am Ende ihres zwei Jahre später erschienenen Romans Malina als Konzeption für das Erzählen der »Todesarten«, wenn das Ich am Ende verschwindet und Malina das Erzählen überlässt. Wie Bachmanns namenlose Ich-Figur ist auch Sophie Blind Schriftstellerin, philosophisch geschult und mit Fragen der Psychoanalyse vertraut. In beiden Romanen ist deren Leben eine permanente Zerreißprobe zwischen intellektueller und sexueller Existenz, scheitert die Erfüllung von Liebesbeziehungen am Willen zur Selbstbestimmung und umgekehrt: »[U]nd um sie herum lauter Erinnerungen an verlorene Freuden«, wie es in Taubes’ Roman heißt.
Aus der subtilen Poetologie einer verkehrten Autobiografie folgt allerdings nicht der Verzicht auf die Bearbeitung individueller Erinnerungen. Doch entsprechen diese nicht der beliebten Logik einer Ableitung der Lebensgeschichte aus Herkunft und Kindheit. Vielmehr werden in Divorcing erst im letzten der drei großen Kapitel, denen nur noch ein kurzer Ausblick mit Momentaufnahmen aus dem Leben einer sogenannten freien Frau in New York folgt, Erinnerungen an eine Kindheit im Budapest der Dreißigerjahre erzählt, – nachdem man bereits vom Unfalltod der Sophie Blind erfahren hat, an ihrer Beerdigung und an einem Gespräch des hinterbliebenen Ehemanns Ezra, eines Gelehrten und Rabbiners, mit seinem Schüler an ihrem Totenbett teilgenommen hat, nachdem man zahllose Auftritte aus ihrer Ehe und verzweifelten Trennungsversuchen gelesen hat und nachdem einem eine Fülle fantastischer Szenarien vor Augen geführt worden ist, die einem surrealen Theaterstück entstammen könnten.
Buch, Leben und Traum – das sind die drei konkurrierenden Existenzräume der Sophie Blind. Wenn sie dem Buch darin den Vorteil gibt, weil man im Buch stets wisse, wo man ist, dann gilt das für die Leser ihrer Geschichte gerade nicht. Denn die Darstellung wechselt zwischen Traumszenen, Erinnerungsbildern, fantastischen und satirischen Szenarien und sehr realistischen Erzählungen aus dem Alltag einer Intellektuellen mit drei Kindern. Vor allem mit den Schauplätzen ereignen sich ebenso fantastische wie bedeutungsvolle Entstellungen, beispielsweise die Verwandlung des Schauplatzes einer Hochzeit in den einer Beerdigung, eines wissenschaftlichen Kongresses in ein Verhör und eine Gerichtsverhandlung. In diesen Szenen werden nicht nur die Handlungs- und Sprachregister verschiedener gesellschaftlicher Rituale überblendet, sondern auch Sophies Aufenthaltsorte (vor allem Paris, Manhattan, Budapest, Jerusalem) ebenso wie verschiedene Personen aus ihrer Lebensgeschichte. So wie im Traum – womit sich eine weitere Nähe zu Bachmanns Roman Malina auftut, auch wenn dort dem Schauplatz und der Sprache des Traums ein gesondertes Kapitel vorbehalten ist: mit Alpträumen, in denen die Ich-Erzählerin die ihr vorgeschriebenen Rollen spielen muss.
Bei Taubes halten die meisten Szenen die Schwebe zwischen Traum und Erinnerungsbildern: »Ezra stand immer auf der Bühne: manchmal trat Sophie mit ihm auf und sagte ihren Text auf, manchmal war sie wie ein Gassenjunge, der durch die Bühnenbretter späht, um den Auftritt des großen Komödianten zu erhaschen.« Die Selbstwahrnehmung in dieser Beobachtung scheint der Autorin ihr Skript vorgegeben zu haben: die Darstellung eines Lebens als Abfolge von teils tragischen, teils komischen Szenen, deren Drehbuch dem eigenen Auftritt als Akteurin vorausgeht. Wie Bachmanns Ich reflektiert Sophie Blind die emotionale Ökonomie, mit der die Frau in diese Rollen hineingerät und aus der die eigene Verletzlichkeit entsteht: »[U]nd immer war da eine Frau, die wartete […] eine Frau, die wartete, dass er wortlos im Dunkeln zu ihr käme; eine Frau, die etwas von diesem Mann wollte, das nur er ihr geben konnte und das er nur ihr allein geben konnte.«
Wie sehr es in Susan Taubes’ Roman um die Bearbeitung der eigenen Erfahrungen, Sehnsüchte und Verluste geht, hat die jüngst publizierte Susan-Taubes-Biografie von Christina Pareigis zeigen können. Wer sich für die »verlorenen Freuden« und Verluste der Autorin interessiert, braucht nur den Briefwechsel zwischen ihr und Jacob Taubes aus den Anfängen ihrer Liebe in den Jahren 1950–1952 zur Hand zu nehmen: das außergewöhnliche, in seiner Mehrsprachigkeit besonders lebendige Zeugnis einer leidenschaftlichen intellektuellen und erotischen Beziehung, ein Austausch, in dem Liebe und Philosophie, das Ringen um ein jüdisches Leben nach dem Zivilisationsbruch und mit den Rissen in der Überlieferung unentwirrbar miteinander verflochten sind. Und dennoch ist ihr Roman kein Schlüsselroman, der Rückschlüsse auf Details und konkrete Ereignisse ihres Lebens und ihrer Ehe erlaubte, auch wenn Susan Taubes sich weniger in der Technik des Spurenlöschens übt als Bachmann, die bereits auf einschlägige Erfahrungen im und mit dem Literaturbetrieb zurückblickte.
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