Im Frühjahr dieses Jahres fuhr Sophie nach New York, um ihre dort verbliebenen Sachen zu packen und zu verschiffen und um ihre Finanzen zu regeln. War dies etwa der rechte Zeitpunkt für eine glückliche Liebesaffäre?
Sie hatte sich ereignet.
Sophie kehrte nach Europa zurück und verbrachte einige Wochen mit den Kindern am Meer, bis ihre Pariser Wohnung fertig war. Auf dem Flug von New York, unterwegs zu ihren Kindern, wirbelten ihre Gedanken in seliger Verwirrung durcheinander. Sie würde noch viele glückliche Affären haben. Oder vielleicht nur noch eine einzige, die bis an ihr Lebensende anhielte. Aber vielleicht wurde so etwas nur einmal im Leben bewilligt, und sie hatte es gehabt. Es machte nichts, dass sie mit dem Packen nicht ganz fertig geworden war.
Sie landen im üblichen grauen Nieselregen am Flughafen Orly. Sophie Blind in ihrem Reisecape, links und rechts tänzelt je ein Kind, das älteste stürmt mit einem riesigen Korb voran, in dem sie die schweren Stücke untergebracht haben – Messer, Muscheln, Campingausrüstung, die Schreibmaschine, das in noch strandfeuchte Badetücher eingeschlagene Bügeleisen. Mit welchem Flugzeug fliegen wir weiter?, fragen die Kinder. Swissair? Pan Am? Air France? Lufthansa? Warum fliegen wir nie mit Air India? Wir fliegen gar nicht weiter. Wir bleiben hier. Wir bleiben jetzt für immer hier. Die Stimme der Mutter, müde und fern, im Taxi den Kai entlangrasend, während um sie herum die Sehenswürdigkeiten von Paris auftauchen.
Sie halten vor einem Gebäude, an dem noch gebaut wird. Sie zeigt auf das oberste Stockwerk, da, wo die Fenster neu eingesetzt sind. Fünfter Stock und kein Aufzug. Wusst’ ich’s doch! Das hab’ ich mir doch gleich gedacht!, meint Joshua, der den Korb hinaufschleppt. Es ist gut für dein Herz, sagt Toby. Warum fangen sie denn oben an?, fragt Jonathan.
Die Wohnung ist noch nicht ganz fertig; die Arbeiter verlegen gerade den Bodenbelag. Nein, sie können noch nicht rein, bis die Arbeiter am Abend fertig sind, aber eine Menge Gepäck ist schon eingetroffen – Kisten und Koffer neben der Tür entlang der Wand aufgestapelt, obenauf einige Briefe. Hat Papa geschrieben? Warum macht sie den Brief nicht auf? Doch nicht im Treppenhaus!
Sie gehen hinaus auf den Boulevard: tabac, boulangerie , Kioske, die mit den Konzertansagen des letzten Monats vollgeklebt sind, die Crédit Lyonnais Bank, die Pissoirs; im Gänsemarsch durch enge Seitengassen; défense d’afficher an narbigem Gemäuer; alles noch wie gehabt, Bäche laufen den Rinnstein entlang, und der kleine Mann im blauen tablier steuert den Müll mit seinem Strohbesen in Richtung Kloake; um die nächste Ecke tritt Notre-Dame in Erscheinung. Und was machen wir jetzt? Wenigstens hat der Regen aufgehört. Sollen wir ins Kino gehen?
Sie schreibt an ihren Liebhaber, während sie im Café am Eck sitzen und warten, dass die Arbeiter fertig werden. Liest seinen Brief noch mal, zerreißt ihren eigenen. Heute früh im üblichen grauen Nieselregen gelandet und Deinen Brief vorgefunden … Sie beginnt ein neues Blatt. Können wir jetzt gehen, Mama? … Paris ist nicht mehr, wie es war. Sie streicht das Geschriebene durch und zerknüllt das Papier.
Ja, unter dem braunen Packpapier ist tatsächlich ein Teppich. Die Kinder haben ihren Spaß beim Abreißen und Einrollen. Goldfarben, meinetwegen, wenn Jonathan unbedingt meint. Der Ton hieß moutarde , als sie sich im vorigen Jahr dafür entschied. Keine Möbel? Wer braucht schon Möbel! Sie schlafen, spielen und essen auf einem goldenen Teppich. Wie gut, dass sie ihren Campinggaskocher mitgebracht haben, bis die Gasleitungen verlegt und vom inspecteur du gaz endlich abgenommen worden sind …
Die Kinder sind neugierig. Von wem ist dieser dicke Brief aus New York, den sie beim Spaghettikochen liest? Wer ist Ivan?, fragen sie. Hat er Geld? Sieht er gut aus? Wirst du ihn heiraten? Ich will einen reichen Mann heiraten, sagt Toby. Bist du vielleicht reich?, sagt Jonathan. Joshua will überhaupt nicht heiraten. Essen auf dem Boden wie die Japaner, wer sind sie nur, diese kleinen Leute? Ein paar Möbel werden wir aber doch brauchen, findet Toby. Für Gäste. Was glaubst du denn, wir werden hier Partys feiern! Es stimmt schon, man kann Leute nicht richtig einladen, solange nicht wenigstens ein paar Stühle da sind.
Die Leute kommen aber auch so. X hat gehört, dass sie nicht mehr mit Ezra zusammenlebt. Y hat von Ezra erfahren, dass sie jetzt in Paris leben. Z hat es von X. Sie warten alle schon seit Jahren darauf. Entschuldigungen sind zwecklos. Je ne me suis pas encore installée . Der Teppich ist völlig ausreichend. Es kommt gar nicht infrage. Sie kann nicht, die Kinder könnten aufwachen. Sie kann nicht, sie ist völlig erledigt. Sie kann nicht, muss auspacken. Sie kann nicht, muss fünfzig Briefe schreiben. Nein, sie kann nicht, sie muss an ihrem Buch arbeiten; sie kann ihnen auch nicht erzählen, wovon es handelt. Sie muss schlafen. Sie muss wirklich all diese Briefe schreiben. An Ezra. Kann nicht. Geschäftliches. Kann nicht. An ihren Liebhaber in New York. Kann nicht. Zu Ende auspacken. Kann nicht. Kann nicht schlafen. Kann nicht arbeiten. – Wie wird man am besten ein Hochzeitskleid los, das man weder an seine Tochter noch an eine Schwiegertochter weitergeben kann? Gar nicht.
Der Putz ist immer noch nicht trocken. Wie soll er auch bei dieser Feuchtigkeit trocknen … »Quartier pittoresque et malsain«, wie es im Guide Bleu heißt. Nach Mitternacht läuft sie noch lange im Pelzmantel auf und ab.
Wo gehst du hin, Mama? Joshua kommt von der Toilette, steht blinzelnd im Flur. Im Nachthemd auf einen Ball, wohin denn sonst? Sie wartet, bis er im Nebenzimmer unter das Betttuch gekrochen ist, bevor sie alle Lichter löscht.
*
Das Zimmer ist überfüllt mit geputzten Leuten. Sie gehen ein und aus. Einige trinken draußen auf der Terrasse. Man hat die Türflügel weit aufgetan, das Sonnenlicht flutet herein.
Aufwachen, es ist Hochzeitssonntag!, kreischt eine aufgeregte Blondine. Sie fegt durch den Raum wie ein General, der seine Soldaten um sich schart, eine wehende Chiffonschärpe an ihrem erhobenen, auffallend geäderten nackten Arm, eine Mänade mit einem Gefolge von heruntergekommenen europäischen Intellektuellen. Sie werfen verstohlene Blicke auf die Silberplatten mit garnierten Schinken, die auf die Terrasse hinausgetragen werden, und registrieren gleichzeitig die Unordnung, die im Zimmer herrscht: das ungemachte Bett, die alten Zeitschriften, ungewaschene Kleider, schmutzige Tassen und volle Aschenbecher auf dem Boden und dem Mobiliar. Es ist eine Künstlerbude, sagt jemand zur Erklärung. Kleine Mädchen stehen um den Schreibtisch herum und wühlen in einem Haufen von Papieren und Notizheften. Sie tragen Rouge auf den Wangen und blaue Lidschatten. So junge Mädchen und schminken sich schon!, bemerkt einer der Gäste mit missbilligendem Lachen. Sie fangen an, die Papiere in die Luft zu werfen, während von der Terrasse leise die Anfangstakte eines Klavierstücks herüberklingen.
Da erscheint der Bräutigam in Schwarz im Gefolge seiner Sippe, ein lärmender Aufmarsch bärtiger Männer bis ins siebente Glied. Sie taumeln stolzierend und prahlerisch einher, von ihren Stiefeln behindert, rot im Gesicht und schwitzend unter ihren Kaftanen, und drängen sich ins Zimmer hinein. Die Luft ist zum Ersticken, aber die Frauen bringen trotzdem noch mehr Kristallvasen mit riesigen wachsartigen, duftenden Blumen herbei.
Die Braut wird hereingeführt, tiefverschleiert. Ihre Handgelenke und Arme sind mit scheppernden Silberreifen beschwert. Sie kommt barfüßig wie eine Sklavin herein, umhüllt von Äthergestank. Die Sippe des Bräutigams hat sich wie für ein Klassenfoto aufgestellt, die Jüngsten knien in der vordersten Reihe, die kleingewachsenen Patriarchen stehen dahinter auf Hockern. Die Braut kniet nieder, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in Erwartung ihrer Enthauptung, während der Bräutigam in einer hohen Fistelstimme singt: »Du bist mein Stolz und meine Pracht! Ohne dich bin ich ein Bettler …« Die Sippenangehörigen marschieren einzeln an ihr vorüber, mit beifälligem Gemurmel. Jeder von ihnen legt ihr einen eisernen Kragen um den Hals, bis ihr der Kopf umknickt. Der Bräutigam stimmt in den Singsang seiner Sippe ein.
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