Die Richter verwarfen Eichmanns fadenscheinige Rechtfertigungsversuche. Der Befehl zur Vernichtung von Millionen schuldloser Menschen war kein »Staatsakt«, 64der den Befehlsausführenden aller persönlichen Verantwortung enthoben hätte. Es handelte sich vielmehr um einen »augenscheinlich unrechtmäßigen« 65Befehl, den Eichmann im Wissen um seine Rechtswidrigkeit dennoch mit Eifer befolgt hatte. Bei ihrer Erforschung der Wahrheit gelangten die Richter zu der Erkenntnis, der Angeklagte habe »seine Aufgabe in all ihren Phasen […] aus innerer Überzeugung mit ganzem Herzen und ganzer Seele geleistet«. 66Nie »lau« in seinen Befehlen und Taten sei er »tatkräftig, erfindungsreich und extrem in seiner Aktivität zur Durchführung der Endlösung« 67gewesen. Sein »verbrecherisches Handwerk« habe er »mit ganzem Herzen und ganzer Seele« betrieben, 68»[s]einer Aufgabe widmete er seinen regen Geist, seine List und sein Organisationstalent«. 69Dem Gericht war Eichmann folglich kein »initiativlose[r] Angestellter«, kein bloßer »bürokratischer Beamter«, vielmehr sah es in ihm einen »Mann von eigenem Willen, der sich so stark fühlt, daß sogar ein Führerbefehl ihm nicht als derart bindend erscheint, daß verboten sei, sich über ihn Gedanken zu machen«. 70
Wie insbesondere die Anklagevertretung war auch das Gericht der Auffassung, Eichmann habe »eine Schlüsselstellung in der Durchführung der Endlösung« 71innegehabt, sein Referat im Reichsicherheitshauptamt habe »im Zentrum der Aktion der Endlösung« 72gestanden.
Eichmann war freilich nicht der »Architekt der Endlösung«. Anklage und Gericht überschätzten seine Rolle. Mit dem Verbrechensgeschehen in Polen, dem Baltikum und der Sowjetunion hatte er befehlsmäßig nichts zu tun. Er lieferte aber (»fahrplanmäßig«, »transporttechnisch« nur, wie er fortwährend in permanenter Selbstexkulpation beteuerte) Juden nach Łódź, Riga, Minsk, Kowno und Sobibór. Von den RSHA-Transporten ins in Ostoberschlesien gelegene Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Ostoberschlesien war ins Deutsche Reich eingegliedert worden) 73ganz zu schweigen. In seiner Studie über den Mord an den europäischen Juden resümiert der Holocaust-Historiker Christian Gerlach: »Adolf Eichmann, der das Judenreferat des RSHA leitete, übte einigen Einfluss aus und koordinierte die Deportation von über einer Million Juden aus weiten Teilen Europas in Todeslager und Ghettos, aber seine Koordination erfasste nicht die meisten Juden in Polen und den besetzten sowjetischen Gebieten, wo die Mehrheit der europäischen Juden lebte.« 74
Mit den Massenerschießungen der Einsatzgruppen war Eichmann gleichfalls operativ nicht verbunden. Allerdings gingen im Amt IV des Reichssicherheitshauptamtes die Berichte über die Massenexekutionen ein. Im Referat IV A 1 wurden die »Ereignismeldungen UdSSR« auf der Grundlage der Berichte erstellt, ab Mai 1942 sodann die »Meldungen aus den besetzten Ostgebieten«. 75Auch Eichmanns Referat (IV B 4) erhielt eine Ausfertigung. Fraglos standen der Chef des Amts IV des RSHA, Heinrich Müller, sowie sein Untergebener Adolf Eichmann gleichsam im informatorischen Zentrum der Shoah. Nicht umsonst ließ sich der von Himmler beauftragte Statistiker Richard Korherr von Eichmann Opferzahlen geben.
Anders als die Anklagevertretung ging im Fall Einsatzgruppen das Gericht dem prominenten Zeugen Michael A. Musmanno nicht auf den Leim. Der einstige Vorsitzende Richter des Nürnberger Nachfolgeprozesses gegen die Kommandeure der Mordeinheiten (Fall 9) 76stilisierte Eichmann zum Chef der Einsatzgruppen. Der Zeuge stützte sich auf Angaben Walter Schellenbergs 77(RSHA, Chef von Amt VI), der zusammen mit Eichmann an einer Zusammenkunft teilgenommen hatte, auf der die Kommandeure der vier Einsatzgruppen von Reinhard Heydrich und Bruno Streckenbach (Chef von Amt I des RSHA) Weisungen erhalten hatten. 78
Musmanno, des Deutschen 79nicht mächtig, hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit Personen aus dem Umfeld Hitlers Gespräche geführt. Sein Auftrag war gewesen, Erkenntnisse über den Verbleib bzw. den Tod des Staatsoberhaupts des Deutschen Reiches zu sammeln. 80Das Gericht hielt die von Musmanno wiedergegebenen Feststellungen Schellenbergs für wenig zuverlässig und sah deshalb »aus Gründen der Vorsicht« davon ab, »Tatsachenfeststellungen auf dieser Version Schellenbergs aufzubauen«. 81Auf weitere Einlassungen Musmannos, Göring, Ribbentrop und andere hätten Eichmanns dominierende Rolle selbst Hitler gegenüber bezeugt, ging das Gericht gar nicht ein. 82
Das Beispiel Musmanno-Aussage wurde hier angeführt, um die Leichtfertigkeit der Anklagevertretung einerseits, die durchaus kritische Aussageprüfung des Gerichts andererseits deutlich zu machen.
Das Urteil fand wie der Prozess in der Bundesrepublik recht wenig Beachtung, obgleich es eine ziemlich umfassende Prozessberichterstattung gab 83und viele Deutsche von dem Verfahren Kenntnis hatten. 84Ausnahmen waren wenige Juristen, die sich auch mit den bundesdeutschen NS-Verfahren befassten. 85Viel hätten insbesondere Justizjuristen aus dem Verdikt lernen können. Im Gegensatz zur Rechtsauffassung der Jerusalemer Richter machten bundesdeutsche Strafgerichte, wie oben angedeutet, die Shoah, an der rund eine Viertelmillion Deutsche und Österreicher 86direkt beteiligt gewesen war, zu einem aus einer Vielzahl von Einzelereignissen zusammengesetzten Geschehen, das nur punktuell aufzuklären war. Individuelle Schuld war nach der herrschenden Rechtspraxis meist nur durch Einzeltatnachweis zuzurechnen. Letztendlich standen bei dieser justizökonomischen Rechtsprechung nur noch Exzesstäter vor Gericht, die befehlslos, mithin eigenmächtig gemordet hatten. Justizökonomisch meint die selektive Ahndung der Verbrechen, um eine von vielen in den 1960er Jahren beklagte Überforderung der Justiz zu vermeiden. Fraglos wäre die bundesdeutsche Strafjustiz strukturell und personell nicht in der Lage gewesen, so zu verfahren, wie sie es heute in den späten NS-Prozessen gegen greise Angeklagte tut. 87Jeden kleinen SS-Mann, jede Schreibkraft, jede SS-Helferin (Fernschreiberin, Funkerin, Telefonistin), jeden Reichsbahnbediensteten, jeden Wachmann hätte sie nicht belangen können.
Um 1960 ging es der Strafjustiz nach der möglichst umfassenden Untersuchung von Tatkomplexen und der »restlosen Erfassung« 88der Verbrechen vor allem um die »Ermittlung der Hauptverantwortlichen« und »nicht so sehr«, wie man freimütig eingestand, um die »Feststellung der kleineren Mitbeteiligten, insbesondere der untergeordneten Befehlsempfänger«. 89Allein »die scheusslichsten Taten aus der damaligen Zeit, deren Nichtverfolgung unerträglich wäre«, sollten »noch rechtzeitig (vor der Verjährung [von Mord und Mordbeihilfe im Jahr 1965; W.R.]) strafrechtlich verfolgt werden«. 90Allein die »Hauptbeschuldigten« 91waren noch vor Gericht zu stellen.
Wenige Tage nach der Konferenz der Landesjustizminister und -senatoren in Bad Harzburg im Oktober 1958, auf der die Errichtung der Zentralen Stelle beschlossen worden war, meinte Generalbundesanwalt Max Güde in einem Vortrag, dass allein die »Träger des Terrors und die sadistischen Henker […] der Ermittlung und Aburteilung noch zugeführt werden müssen«, während »[d]ie anderen in großzügigem Schnitt zu trennen und in Gottes Namen zu ertragen« seien. In der Beschränkung auf Hauptverantwortliche und Exzesstäter sah Güde »eine wesentliche Seite der Aufgabe, der die Justiz auf diesem Gebiet entgegensteht«. 92
Die »Wende« in der auf einen Irrweg geratenen Ahndung der NS-Verbrechen trat erst 2011 mit dem Urteil im Münchner Demjanjuk-Prozess ein. 93Zu Recht ist der Prozess ein »Meilenstein-Verfahren« 94genannt worden. Will man darunter auch einen Wendepunkt zum Besseren verstehen, dann bleibt die sachliche Feststellung, dass er nur noch für eine Dekade den Weg zu mehr Gerechtigkeit aufzeigen konnte. Die Wende kam zu spät und sie wäre gar nicht eingetreten, wenn nicht ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle den Fall Demjanjuk aufgegriffen und engagiert verfolgt hätte. 95
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