Auf Geheiß Reinhard Heydrichs (Chef des SS-Reichssicherheitshauptamts), so Eichmanns Schilderung im Polizeiverhör und in der Beweisaufnahme, besuchte er Mitte September 1941 Odilo Globocnik im besetzten Polen. Der SS- und Polizeiführer von Lublin hatte von Heinrich Himmler (Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei) den Befehl erhalten, im sogenannten Generalgouvernement Vernichtungslager zu errichten. Nach Eichmanns Erzählung zeigte Globocnik dem Abgesandten aus Berlin ein Todeslager. Eichmann nahm an, in Treblinka gewesen zu sein. 41Das von Eichmann besichtigte Lager war vermutlich Bełżec.
Die Holocaust-Forschung ist indes zu anderen Ergebnissen gelangt. Erst im Oktober 1941 erteilte Himmler Globocnik den Befehl, Todeslager zu errichten. 42Mit dem Bau von Bełżec wurde umgehend begonnen, im März 1942 ermordete die SS die ersten Opfer mit Motorabgasen. 43
Die von Globocnik geleitete »Aktion Reinhardt« führte sein in Lublin ansässiger Stab unabhängig vom Reichssicherheitshauptamt durch. Eichmann und sein Referat waren freilich gut informiert und standen mit den Massenmördern in Kontakt. Im Fall der Vernichtung der polnischen Juden waren Eichmanns organisatorische Fähigkeiten jedoch nicht gefragt. Ghettoräumungen, »örtliche Aussiedlungen«, Deportationen und Massenmord in den Todeslagern führten die Männer des Lubliner SS- und Polizeiführers mit Hilfe ihrer Helfershelfer und den örtlichen SS-Dienststellen selbstständig durch.
Das eingesetzte reichsdeutsche Personal war im Morden geübt. Viele waren bereits im Rahmen der »Aktion T4« genannten Tötung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten tätig gewesen. 44Die federführende »Kanzlei des Führers« 45hatte die Mörder nach Lublin geschickt. Globocnik standen erfahrene, motivierte und weltanschaulich gefestigte Männer zur Verfügung. Sie mordeten aus Überzeugung und äußerst effektiv. 46
Die irrtümliche Vorverlegung des Beginns des Holocaust hat für die Rechtsfrage , wie das Verbrechensgeschehen und Eichmanns Beteiligung zu werten sind, freilich keine Bedeutung. Das Gericht betrachtete »alle im Zuge der Ausführung der Endlösung der Judenfrage begangenen Handlungen als eine Einheit«. 47Diese Rechtsauffassung hat Bestand, auch wenn die Jerusalemer Richter historisch unzutreffend davon ausgegangen sind, dass Hitlers Vernichtungsbefehl »ein einziger, genereller, allumfassender Befehl« 48gewesen war. Ihre von der Forschung verworfenen tatsächlichen Feststellungen machten somit die rechtliche Wertung nicht falsch. An der Darstellung des arbeitsteilig begangenen Kollektivverbrechens ändert die Tatsache, dass es Mitte 1941 keinen verbindlichen, allumfassenden Mordbefehl Hitlers gegeben hat, nichts. 49Fraglos richtig ist deshalb, dass im Verlauf des Jahres 1942 der »Wille der Planenden und der Hauptausführungsorgane […] der gleiche […] war […] wie der des Urhebers, einheitlich und umfassend«. 50Rechtlich betrachtet setzte sich der »strafbare Vorsatz« der Holocaust-Täter »unentwegt fort und umfaßte all die begangenen Handlungen, solange die Aufgabe in ihrer Gesamtheit nicht durchgeführt war« 51, sprich: nicht alle Juden restlos vernichtet waren.
Anders als viele bundesdeutsche Gerichte, die die »Vernichtungsaktion« nicht als »eine einzige umfassende Handlung« betrachteten, sie vielmehr »in einzelne Taten und Handlungen zergliedert« haben, die vorgeblich »von Einzelpersonen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ausgeführt wurden«, qualifizierte das Bezirksgericht die Tatbeteiligten als Mittäter. 52Jede »Einzelperson, die vom Plan der Endlösung Kenntnis hatte und an der Judenvernichtung mittat«, war daher »als Mittäter an der Ausrottung in den Jahren 1941 bis 1945 anzusehen«. 53Unerheblich war, an welcher Stelle der Mittäter im Vernichtungsapparat agiert und wie lange er im Vernichtungsprozess mitwirkt hatte. Die Verantwortlichkeit eines jeden Mittäters war nach Auffassung des Gerichts gleich der »Verantwortlichkeit eines Haupttäters (Principal Offender), der das Gesamtverbrechen in Mittäterschaft mit anderen begangen hat«. 54Anders auch als die Rechtsprechung hierzulande unterschieden die Richter nicht zwischen tatnahen und tatfernen Akteuren. Da es sich um »Massenverbrechen« handelte, hatte »die Nähe oder die Entfernung des einen oder des andern dieser vielen Verbrecher zu dem Manne, der das Opfer tatsächlich tötete, überhaupt keinen Einfluß auf den Umfang der Verantwortlichkeit«. 55
Der Organisator eines Transports in Paris, der Teilnehmer an einer Fahrplankonferenz in Wien, der Bewacher eines Todeszuges von Westerbork nach Sobibór, der Häscher bei einer Razzia in Rom: sie alle waren, sofern sie in dem Wissen handelten, einen Beitrag zur »Endlösung« zu leisten, ebenso verantwortlich, wie der Schütze an der Erschießungsgrube im rückwärtigen Heeresgebiet der Ostfront, der »Selekteur« auf der Rampe in Birkenau, der die Opfer durch die »Himmelsstraße« in die Gaskammern der Lager der »Aktion Reinhardt« treibende SS-Mann, der das Zyklon B in Auschwitz und Majdanek in die »Duschräume« schüttende »Desinfektor«. Nach Auffassung des Gerichts wuchs das »Verantwortlichkeitsausmaß […] je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Betrieb setzt und zu den höheren Befehlsstufen gelangt, den ›Anstiftern‹« 56, den Schreibtischtätern im Reichssicherheitshauptamt, in den Dienststellen der Sicherheitspolizei und des SD in den besetzten Gebieten und anderswo.
Anders gesagt: Die Frage, ob Eichmann an Vernichtungsaktionen in den Todeszentren beteiligt war, erachtete das Gericht »von sekundärer Wichtigkeit, da die rechtliche und moralische Verantwortung desjenigen, der das Opfer dem Tode ausliefert«, in den Augen der Richter »nicht geringer ist, als die Verantwortung desjenigen, der das Opfer mit eigenen Händen tötet, wobei sie sogar die Verantwortung des letzteren übersteigen kann«. 57
Mit Entschiedenheit wies das Gericht die »Version des Angeklagten zurück, er sei nichts als ein ›Zahnrad‹ in der Vernichtungsmaschine gewesen«. 58Die meist zum Zweck der Eigenexkulpation vorgetragene »Rädchen-Theorie« lief auf das Argument hinaus, man sei gleich einem kleinen Rad im großen Getriebe des Massenverbrechens unwichtig und austauschbar gewesen. Oder, in weiterer Verwendung der metaphorischen Sprache, kein Motor, kein Schwungrad, kein Schalthebel sei man gewesen, sondern nur winziger Teil eines aus vielen tausend ineinandergreifenden Einzelstücken zusammengesetzten, automatisch und ohne eigenes Zutun funktionierenden Mechanismus.
Das Gericht hob hervor, das Reichssicherheitshauptamt sei die »Zentralbehörde in Angelegenheiten der Endlösung der Judenfrage« gewesen, Eichmann habe »an der Spitze der an der Durchführung der Endlösung Tätigen« gestanden. 59Wohl handelte Eichmann als Befehlsempfänger, agierte »nach den ihm von seinen Vorgesetzten erteilten Richtlinien«, doch ihm blieb in seiner Stellung als Referent »noch ein weites Ermessen sogar zur Planung von Handlungen aus eigener Initiative«. Mithin war Eichmann den Richtern entgegen seinen Beteuerungen »keine ›Marionette‹ in den Händen anderer, sondern nahm seinen Platz unter den Drahtziehern ein«. 60
War die Shoah eine Tat , an der als Mittäter beteiligt war, wer im Vernichtungsapparat eine Funktionsstelle 61innehatte, dann konnte es in einem Strafverfahren nicht darum gehen, einem Angeklagten konkrete Tatbeiträge individuell zuzurechnen. Die Aufteilung der Shoah in Ort und Zeit, in Lokalereignisse und Episoden, die Annahme von unabhängigen, selbstständigen Einheiten 62betrachtete das Gericht als eine unangemessene rechtliche Wertung. Die Forderung des konkreten Einzeltatnachweises 63war angesichts des arbeitsteilig begangenen Kollektivverbrechens mithin obsolet.
Die Jerusalemer Richter erforschten auch Eichmanns innere Einstellung zu den ihm befohlenen Taten. Der Angeklagte rechtfertigte sich mit dem Verweis auf seinen unbedingten Befehlsgehorsam. Blinder Gehorsam war ihm eine Tugend, die Gesetzmäßigkeit eines Führerbefehls stand für ihn außer Frage. Verantwortung kam daher dem auf höheren Befehl handelnden Untergebenen seiner Meinung nach nicht zu. Schuldhaft konnte sein Tun und Lassen nicht gewesen sein, da er staatskonsensual, führertreu und befehlsergeben gemäß seinem geleisteten Eid agiert hatte. Die Stimme des Gewissens regte sich deshalb bei Eichmann nicht. Im Gegenteil: Spätestens nach der im Januar 1942 abgehaltenen Wannsee-Konferenz hatte er ein ruhiges und gutes Gewissen.
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