„Mach doch bis dahin noch ein Nickerchen“, fügte sein Vater fürsorglich hinzu, „ich weck dich dann auf. He, Harun al Raschid, du Möchtegern-Fakir! Was guckst du? Mach sofort die Schnur wieder fest und binde den Knoten neu! Immer diese Artisten mit ihren zwei linken Händen!“
Zwei linke Hände hat er nun nicht gerade, dachte Fred über den Zauberer nach, während er zu seinem Wagen ging, jedenfalls immer noch besser als der Wurm!
Er nahm die Perücke ab, zog das Clownskostüm aus und hüpfte – allez hopp! – ins Bett. Schlafen war seine Lieblingsbeschäftigung. Dort, in seinen Träumen, fiel er nie hin, und keiner lachte über ihn. Im Traum konnte er sogar selbst lachen, und zwar einzig und allein aus Freude und über lustige Witze, die keinem wehtaten. Solche, wie Schneewittchen, ihre schon etwas angejahrte Akrobatin, sie immer erzählte.
Kapitel 1
Der Geburtstag von Lilli Blum
Mittags, als die Julisonne das rissige graue Kopfsteinpflaster auf dem Marktplatz schon regelrecht zum Glühen brachte, kam Fred, begleitet von Glockengeläut, zum Rathaus. Er trat durch die hohen Türen des Rathaussaals, deren blaugrüne, bleigeäderte Buntglasfenster matt glänzten. Im ganzen Saal ertönte die laute Musik des Stadtorchesters. Die erwachsenen Gäste hatten sich trotz der frühen Stunde in ihre beste Abendgarderobe geworfen und wirbelten ausgelassen über den Mosaikfußboden, während die Jugendlichen gelangweilt an den gedeckten Tischen saßen und die Nase ins Handy steckten. Wie immer, dachte Fred. Er kannte solche Vormittagsvorstellungen zur Genüge. Die Eltern orderten Clowns für ihre Sprösslinge, die für so was eigentlich schon viel zu alt waren, und die Jugendlichen ließen es stoisch über sich ergehen und verbrachten die gesamte Vorstellung im Internet. „Von wegen, jetzt hol ich euch da raus!“, beschloss Fred. Er winkte seinen bärtigen Eltern zu, die sich zusammen mit den anderen Erwachsenen zu den Klängen von Polka und Mazurka munter drehten, dann nahm er sein Einrad von der Schulter, stieg geschickt auf und fuhr geradewegs in die tanzende Menschenmenge hinein, wobei er auch noch mit einem Dutzend bunter Bälle jonglierte.
„Na endlich“, freute sich ein grauhaariger Herr im Frack, der aussah wie ein Pinguin und niemand anders als Bürgermeister Blum sein konnte. „Lilli, guck doch mal, was für ein großartiger Clown!“
Das Geburtstagskind, das vor einer riesigen Torte in Form des Lüneburger Rathauses saß, und die anderen Jugendlichen blickten unwillig von ihren Smartphones auf und starrten missmutig den Clown mit den traurigen Augen und dem blutroten, von einem Ohr bis zum anderen aufgemalten Lächeln an. Doch ihre Aufmerksamkeit hielt nicht lange. Nach genau einer Sekunde starrten sie wieder aufs Handy. Nur ein Mädchen, das an einer weit vom Geburtstagskind entfernten Tischecke saß, schaute nicht auf ihr Telefon. Stattdessen betrachtete sie mit ihrem rechten Auge, das schwarz war wie eine sternenlose Nacht, den Clown. Das andere Auge war von einer ebenso schwarzen Augenklappe verdeckt. Das Orchester versuchte, den Clown musikalisch zu unterstützen, und stimmte einen flotten Zirkusmarsch an. Die Erwachsenen beäugten neugierig das Zusammentreffen von Clown und Jugendlichen. Sie selbst hatten schon lange jeden Versuch aufgegeben, ihre Kinder aus den klebrigen Fäden der sozialen Spinnennetze herauszuzerren.
Fred sauste wie ein Wirbelwind auf seinem Einrad am Tisch der Jugendlichen vorbei – und jonglierte auf einmal nicht mehr mit Bällen, sondern mit Handys in verschiedenfarbigen Hüllen, die er den Jugendlichen abgenommen hatte.
Diese schauten noch einen Moment verständnislos auf die bunten Bälle in ihren Händen, dann sprangen sie alle zugleich auf und rannten brüllend hinter dem Dieb her. Aber nichts da. Der Clown mit dem feuerroten Haarschopf entwischte ihnen, kurvte geschickt um Tische und Stühle, wich gekonnt den nach ihm geworfenen Bällen aus und jonglierte dabei die ganze Zeit mit den Handys, die elektrisch kaltblau leuchteten. Die Eltern verfolgten gebannt und mit offenem Mund das Schauspiel, selbst Bim und Bom, die von Freds kleiner Spontaneinlage alles andere als begeistert waren.
„Allez hopp!“, ließ Bom seine Bassstimme ertönen, wohl in der Hoffnung, dass sein Sohn zur Vernunft käme und – zur Freude aller Anwesenden – endlich vom Einrad purzeln würde.
Aber Fred beschrieb mit seinem Rad weiter ausgeklügelte geometrische Figuren, während ihm die Jugendlichen kreischend hinterherliefen. Das Orchester passte sich an und schmetterte nun eine Melodie aus einer dämlichen alten Schwarzweiß-Fernsehshow, wo die Leute auch immer zu aufdringlich fröhlicher Musik hintereinanderherjagten und dabei die Beine in die Luft warfen. Während Fred mit der einen Hand die Handys durch die Luft wirbelte, griff er mit der anderen in die Brusttasche seines lila Fracks und holte eine flache schwarze Scheibe hervor. Damit schlug er sich aufs Knie und hielt plötzlich einen Zylinder in der Hand, den er sich sogleich auf den Kopf stülpte.
„Bravo!“, feuerte ihn das Mädchen mit der Augenklappe an, das sitzen geblieben war.
„Allez hopp, allez hopp, jetzt fall doch endlich hin!“, brüllte Bom im Versuch, die verfahrene Situation noch zu retten.
Und diesmal wurde er endlich erhört. Fred bremste scharf ab, als sei er mit einem unsichtbaren Hindernis zusammengestoßen, und flog in hohem Bogen vom Einrad. Dabei schaffte er es nicht nur, sämtliche Handys im Zylinder, der ihm vom Kopf gerutscht war, zu fangen, sondern auch, mit dem Hintern genau darauf zu landen. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, der Zylinder verwandelte sich wieder zu einer schwarzen Scheibe, und die Jugendlichen, die Fred endlich eingeholt hatten, wurden in eine bunte Konfettiwolke gehüllt. Das Orchester verstummte vor Schreck.
„Gib uns sofort unsere Handys zurück, du fieser Clown!“, kreischte das Geburtstagskind ganz außer Atem.
Betrübt, beinahe entschuldigend zuckte der Clown mit den Schultern und blies ihnen aus seiner Handfläche das restliche Konfetti ins Gesicht.
„AAAHHHH!!!“, brüllten nicht nur die unglücklichen Jugendlichen, die einen dichten Ring um ihren gefallenen Gegner gebildet hatten, voller Entsetzen, sondern auch ihre empörten Eltern, die sich das Spektakel aus der Ferne angesehen hatten. Ein materieller Verlust – das ging nun doch zu weit.
Fred begriff, dass er wahrscheinlich gleich Prügel kriegen würde. Und das hatte er nicht so gern. „Handys? Was für Handys? Meint ihr etwa die, die ihr in der Hand haltet?“, fragte er betrübt.
Und tatsächlich, in ihren zornig geballten, über den Kopf erhobenen Fäusten entdeckten die Jugendlichen ihre Handys. Ein Stoßseufzer ging durch den Saal. Die Eltern applaudierten Fred zufrieden. Die Jugendlichen beruhigten sich augenblicklich wieder und fotografierten den Clown zum Zeichen ihrer Versöhnung sogar mit den aus der Gefangenschaft geretteten Handys.
„Na, dann geh ich mal“, sagte Fred, stolperte aber prompt über seine eigenen Füße und fiel mitten auf die Nase. „Autsch!“
Читать дальше