Reaktionsbildung
Der Mechanismus der Reaktionsbildung vermindert die Angst vor bestimmten Triebwünschen dadurch, dass das Gegenteil (über-)betont wird. Eine Mutter beispielsweise lehnt ihr Kind ab und möchte es hassen. Dieser Impuls wird vom Ich nicht akzeptiert. Die Abwehr kann nun darin bestehen, dass das Kind mit Liebesbeweisen überschüttet wird. Das Ich verhält sich nach dem Motto: »Es stimmt doch gar nicht, dass ich mein Kind ablehne. Seht alle her, wie ich es liebe!« Bei übersteigerten Haltungen kann daher gefragt werden, ob sie nicht als Abwehr des gegenteiligen (inakzeptablen) Impulses dienen. Da die Reaktionsbildung unbewusst geschieht, darf sie nicht mit dem bewussten Verhalten der Heuchelei verwechselt werden.
Regression
Die Regression bedeutet die Abwehr von Es-Impulsen durch den Rückzug in frühere Entwicklungsphasen, in denen die Triebbefriedigung ungefährlich und akzeptabel erscheint. Rauchen und Trinken können so als eine Regression in die orale Phase, Pedanterie und das Betonen von Sauberkeit als eine Regression in die anale Phase interpretiert werden.
Sublimierung
Eine Sonderstellung in den Abwehrmechanismen nimmt die Sublimierung ein. Sie ist eine »normale« und gewünschte Abwehr von Triebimpulsen. Freud unterstellt, dass bei allen Kindern in der analen Phase der Wunsch besteht, mit dem Kot zu spielen. Dieser Wunsch wird in unserer Gesellschaft nicht toleriert und das Kind formt ihn um. Es backt Sandkuchen, malt mit Fingerfarben, spielt mit Knete und könnte schließlich anfangen zu töpfern. Auf diese Weise kann der inakzeptable Wunsch in eine akzeptable und wertvolle Tätigkeit umgewandet werden. Allgemein werden auf diese Weise sexuelle Wünsche in künstlerischen Aktivitäten befriedigt. Kunst wird so als »Ersatz« (Sublimierung) für Sexualität gesehen.
Bewertung
Die Bewertung von Freuds Theorie ist uneinheitlich und kontrovers. Handelt es sich dabei um »das vielleicht größte Ereignis der bisherigen Geschichte der Psychologie« (Flammer 2009, S. 74) oder um einen »Tiefenschwindel«, eine »Tollhauspsychologie« und einen »Jahrhundertirrtum« (Zimmer 1990)?
Mit seinen Denkansätzen hat Freud zweifellos neue Perspektiven eröffnet. Indem er Neurosen als Symptome psychischer Konflikte interpretierte, die Tragweite frühkindlicher Traumata offen legte und die Bedeutung der Sexualität betonte, schuf er veränderte Möglichkeiten, Entwicklungsprozesse und psychische Prozesse zu interpretieren. Diese neuen Perspektiven wurden vielfach aufgegriffen und in unterschiedlichen Richtungen weiterentwickelt. Betrachtet man Popularität und Anregungsgehalt als Maßstäbe für die Bedeutung einer Theorie, dann ist die psychoanalytische Theorie sicherlich sehr bedeutsam.
Kritik
Nach den Kriterien der gegenwärtigen empirischen Psychologie müssen gegen die Theorie Freuds einige kritische Einwände erhoben werden (in Anlehnung an Gerrig/Zimbardo 2008):
Wichtige (Teil-)Konzepte sind nur verschwommen definiert und lassen sich daher nicht empirisch prüfen.
Das Verhalten wird stets im nachhinein erklärt. Es wurden keine Vorhersagen getroffen, deren Richtigkeit geprüft werden könnte.
Die Datenbasis ist gering und bezieht sich auf »gestörte« Personen. Die Übertragbarkeit der theoretischen Aussagen auf »gesunde« Personen ist nicht belegt.
Die Betonung der frühkindlichen Ereignisse vernachlässigt die Bedeutung aktueller Bedingungen für das Verhalten.
Die Bedeutung einer Theorie ist jedoch nicht nur an ihrer Richtigkeit oder am Umfang ihrer Anwendungsmöglichkeiten zu bewerten, sondern auch an der Initiierung neuer Forschung. Freuds Ansätze waren in dieser Hinsicht äußerst fruchtbar. Seine Gedanken über die Bedeutung der frühen Kindheit wurden vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt (z. B. Spitz 2005), manchmal dann auch im Widerspruch zu ihnen (z. B. Bowlby 2006).
Bild der Frau
Für das Bild der Frau in der Gesellschaft und für die Bewertung sexueller Übergriffe hatte Freuds Triebtheorie fatale Folgen. Sexueller Missbrauch, Ausgangspunkt seiner Theoriebildung, konnte im Lichte der Triebtheorie uminterpretiert werden. Nicht Väter (Männer) misshandeln die Kinder, sondern diese phantasieren Vergewaltigungen oder – wenn die Realität nicht geleugnet werden kann – lassen sich ihre geheimen Wünsche erfüllen. Die Opfer werden so zu Komplizinnen der Täter.
Im Bericht über den »Fall Dora« interpretierte Freud (1905 a) den Ekel, den ein vierzehnjähriges Mädchen empfand, als es von einem älteren Mann überrumpelt und gegen seinen Willen geküsst wurde, als hysterisches Symptom. Das Mädchen hätte, seiner Ansicht nach, angenehme sexuelle Empfindungen haben müssen. Das Leiden an sexuellen Übergriffen wird als krankhaft eingestuft. Damit wird eine Legitimation für sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen geliefert.
Die Darstellung der Frau als Mängelwesen und die Zuschreibung negativer Eigenschaften boten eine vermeintlich wissenschaftliche Begründung für die Abwertung von Frauen. Allen, die ein Interesse an ihrer sexuellen Verfügbarkeit hatten und denen ihre Autonomiebestrebungen suspekt waren, mussten Freuds Theorien willkommen sein. Ihre Popularität kann auch unter diesem Aspekt bewertet werden.
3.2.3. Carl R. Rogers: Eine Theorie der Psychotherapie, Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen
Als die entscheidende Triebfeder zur Entwicklung seines theoretischen Konzepts sieht Rogers selbst seine jahrzehntelange therapeutische Arbeit mit Menschen, die persönliche Hilfe brauchen. »Sie stellen für mich den wesentlichen Anreiz meiner psychologischen Überlegungen dar. Aus dieser Arbeit, aus meiner Beziehung zu diesen Menschen, habe ich beinahe all das Wissen bezogen, das ich über die Bedeutung von Therapie, die Dynamik der interpersonellen Beziehungen und der Struktur und Funktion der Persönlichkeit besitze« (Rogers 2009, S. 13).
Carl Rogers, geboren 1902 in einem Vorort von Chicago, wuchs in einer Familie auf, in der »harte Arbeit und ein sehr konservativer (fast fundamentalistischer) Protestantismus ... gleichermaßen geschätzt [wurden]« (Rogers 2009, S. 11). Als Carl zwölf Jahre alt war, zog seine Familie auf eine Farm. Er entwickelte ein starkes Interesse für Agrarwissenschaft, für die er sich später an der University of Wisconsin einschrieb. Später wechselte er zur Theologie, um Pfarrer zu werden, ein Berufsziel, das er zugunsten der Klinischen Psychologie aufgab. Zwölf Jahre lang arbeitete er an einer heilpädagogischen Beratungsstelle für Kinder in Rochester, New York. 1940 wurde er Professor an der Ohio State University. Seine weitere akademische Karriere führte ihn an die Universitäten von Chicago, Wisconsin und La Jolla, California. Er ist der Begründer der Klientzentrierten Psychotherapie. Während seiner Laufbahn hat er stets intensiv als Psychotherapeut gearbeitet. Carl Rogers starb 1987.
Da jede Intervention und Therapie (zumindest implizit) mit theoretischen Vorstellungen wenigstens über Psychotherapie speziell, über Personen allgemein und über Interaktionen getränkt ist, war es nur konsequent, dass diese Vorstellungen nach und nach expliziert wurden. Obwohl es sich um eine integrale Theorie über Therapie, Personen und Interaktionen handelt, wird in diesem Abschnitt nur die Facette »Theorie der Persönlichkeit« behandelt. Die Aspekte der Psychotherapie werden dagegen im Rahmen der klientenzentrierten Therapie ausführlicher dargestellt (7.4.).
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