Die Liste der Forschungsziele beginnt z. B. mit dem Ziel, Marktnischen aufzuspüren, deren Aufnahmefähigkeit festzustellen sowie Anregungen für die Produktgestaltung zu liefern, und endet damit, dass Neuproduktalternativen sowie Werbekampagnen und verschiedene Preishöhen zu bewerten sind.
Die soeben skizzierte Aufgabe, dass am Anfang eines Marktforschungsprozesses eine präzise Formulierung des Marketing-Entscheidungs- und des Marktforschungsproblems zu erstellen sei, wird in der Wissenschaftstheorie unter dem Begriff der Hypothesenformulierung diskutiert. Da die dort aufgestellten Prinzipien zur Hypothesenformulierung von höchster Bedeutung für die Definition von Marktforschungsproblemen sind, ist in aller Kürze darauf einzugehen.
Hypothesen lassen sich gewissermaßen als Forschungsziele betrachten, die in die Form einer Behauptung gekleidet sind. Ein typisches Beispiel sind »Wenn-Dann-Aussagen« der Art »Wenn das Werbebudget um 10 % erhöht wird, dann steigt im gleichen Zeitraum der Marktanteil um 1 %«.
Die Wissenschaftstheorie stellt nun inhaltliche und formale Anforderungen an die Hypothesenformulierung und -überprüfung, die sicherstellen sollen, dass die aufgestellten Behauptungen in intersubjektiv befriedigender Weise nachgeprüft werden können. Was die Hypotheseninhalte anbelangt, so trifft man immer wieder die Forderung, dass »Wenn-Dann-Aussagen« aufzustellen sind, da nur hierdurch die Erklärung, Prognose und damit die Unterstützung von Entscheidungen möglich ist. Letztlich wird also die Formulierung und Überprüfung von Hypothesen über Ursache-Wirkungsverhältnisse gefordert. Zwischen diesen Forderungen der Wissenschaftstheorie und der Realität der Forschungspraxis klafft jedoch eine erhebliche Lücke:
Die verfügbaren Mittel, die Beschaffenheit der Daten und die technische Ausstattung des Forschers erlauben nicht immer die Aufstellung und experimentelle Überprüfung von Kausalhypothesen. Oftmals sind diese Behauptungen nur durch deskriptive Designs, d. h. durch die statistische Analyse von korrelativen Beziehungen überprüfbar. Daneben interessieren in der Marktforschungspraxis nicht nur Beziehungen zwischen Merkmalen. Recht häufig werden auch »deskriptive Hypothesen« formuliert, die sich auf die Ausprägungen eines einzelnen oder auch mehrerer Merkmale beziehen. Dies ist z. B. der Fall, wenn es um die Beschreibung von Markttatbeständen geht, etwa wenn die demographischen, sozioökonomischen und psychologischen Merkmalsausprägungen von Käufern zu erheben sind, oder wenn die Höhe des Marktvolumens ermittelt werden soll.
Noch weiter vom wissenschaftstheoretischen Forschungsideal des kritischen Rationalismus entfernt befindet man sich, wenn das Entscheidungsproblem nur sehr vage bekannt ist. Hier dient die explorative Forschung ja erst dem Zweck der Hypothesenfindung. Was vom wissenschaftstheoretischen Forschungsideal für die Formulierung des Marktforschungsproblems übrig bleibt, ist somit die Forderung, dass nach Abschluss der explorativen Phase von deskriptiven oder kausalen Hypothesen auszugehen ist. Denn unpräzise oder fehlende Hypothesen verhindern nicht nur die angemessene statistische Überprüfung der Ergebnisse, sie ermöglichen zugleich jedwede Manipulation durch den Forscher. Dies ist insbesondere der Fall, wenn zuerst alle möglichen Analysen durchgeführt werden, bis man halbwegs »plausible« und »signifikante« Ergebnisse gefunden hat. Für diese Ergebnisse werden dann nur noch die bereits »bestätigten« Hypothesen gesucht. Diese Vorgehensweise wird in der Forschung als HARKing bezeichnet (hypothesizing after results are known). Dabei führen vor allem das Cherry- Picking (die gezielte Auswahl von Datensätzen und Messinstrumenten, die besonders vielversprechend für die Bestätigung einer Hypothese erscheinen) und das Question Trolling (die Suche in den Daten nach Konstrukten, Messinstrumenten und Zusammenhängen, aus denen sich bestätigbare und möglicherweise publizierbare Hypothesen ableiten lassen) zu besonders starken Verzerrungen der Glaubwürdigkeit von Forschungsergebnissen (Murphy und Aguinis 2019).
Sind das Marktforschungsproblem und die damit einhergehenden Hypothesen formuliert, so ist nun zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der festgestellte Informationsbedarf durch die Marktforschung zu befriedigen ist.
2.1.4 Bewertung und Auswahl von Marktforschungsprojekten
Marktforschungsprojekte, die nicht ausschließlich auf bereits vorliegende Daten zurückgreifen können, verursachen hohe Kosten. Es liegt daher nahe, Projektanträge einer formalen Bewertung zu unterziehen, bei denen Wert und Kosten der Marktforschung einander gegenübergestellt werden. Während die Kosten der Informationsbeschaffung relativ einfach zu berechnen sind, lässt sich der Wert der durch Marktforschung zu liefernden Informationen nur durch eine Reihe restriktiver Annahmen abschätzen.
Eine Möglichkeit zur Bestimmung des Informationswertes von Marktforschungsprojekten bietet die nach dem englischen Pfarrer Thomas Bayes benannte Bayes-Analyse, deren Verbreitung in der wirtschaftswissenschaftlichen Fachwelt vor allem auf Schlaifer (1959) und speziell im Marketing auf Green und Frank (1966) zurückgeht (vgl. u. a. Green und Tull 1988, Decker und Wagner 2002, Hammann und Erichson 2006).
Um den Informationswert mit Hilfe der Bayes-Analyse abschätzen zu können, werden hohe Anforderungen an die Formulierung des Marketing-Entscheidungsproblems gestellt: Es müssen die in Frage kommenden Handlungsalternativen, die Umweltsituationen und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten sowie die in Geld bewerteten Ergebnisse der Handlungsalternativen bei verschiedenen Umweltsituationen angegeben werden. Ohne Durchführung eines Marktforschungsprojekts wird jene Handlungsalternative gewählt, die den höchsten Erwartungswert von risikoneutralen Entscheidern aufweist (Laux et al. 2018, S. 341-389). Wird zur Verbesserung des Informationsstandes ein Marktforschungsprojekt erwogen, so kann mit Hilfe des Bayes-Ansatzes der Erwartungswertzuwachs ermittelt werden, den die zusätzlichen Informationen erbringen. Ist dieser Wert der Informationen höher als die Kosten ihrer Beschaffung, so lohnt sich die Realisierung des Marktforschungsvorhabens. Auf die Darstellung des Formelapparates wird hier verzichtet und stattdessen auf die hierzu bereits zitierte Literatur verwiesen.
Praktisch scheitert die Anwendung der Bayes-Analyse häufig daran, dass die Entscheider nicht in der Lage oder nicht bereit sind, Handlungsalternativen, Umweltsituationen, Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten zu schätzen. Des Weiteren ist das Instrumentarium nur für eine ganz bestimmte Klasse von Marktforschungsproblemen anwendbar; sollen z. B. Informationen über Zielgruppen oder Kontrollinformationen eingeholt werden, so entfällt diese Möglichkeit der Informationsbewertung. Letztlich ist das Konzept der Bayes-Analyse mit seiner Erwartungswertberechnung bei wohldefinierten Entscheidungsproblemen zu restriktiv. Tatsächlich liefern die zu beschaffenden Marktforschungsinformationen zumeist auch Hinweise auf neue Handlungsalternativen und bislang noch nicht berücksichtigte Umweltsituationen; damit verändert sich jedoch die ursprüngliche Definition des Entscheidungsproblems (vgl. zu diesen Problemen Uebele 1981 oder Decker und Wagner 2002).
Somit beschränkt sich der Wert des Bayes-Ansatzes hauptsächlich darauf, dass er Entscheider und Marktforscher zwingt, sich systematischere und logisch weniger widersprüchliche Gedanken über das zu lösende Marketing-Entscheidungsproblem und das geplante Marktforschungsprojekt zu machen als sie es üblicherweise gewohnt sind. In diesem Sinne ist u.U. die Anwendung der Bayes-Analyse bei Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen zu empfehlen. Wenn nun wie in den meisten Fällen der Informationswert von Marktforschungsprojekten nicht in Geldeinheiten bewertet werden kann, so sind Ersatzkriterien heranzuziehen. Hierzu bieten sich Checklisten an, die sich aus wichtigen Bewertungskriterien zusammensetzen, wie
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