Das bedeutet aber auch, dass historisch wechselnden Diskurssystemen auch wechselnde individuelle und kollektive Subjektivitätstypen entsprechen, das heißt wechselnde ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Subjekte mit entsprechend wechselnden Identitäten. Dem Prozess des Sich-Ankoppelns, der Bildung einer Assoziation würde dann ein Sozialkörper, ein Sozius, entsprechen, für den es keine im Vorhinein schon bestehende Identitätssubstanz gibt und Identität auch nicht zwischen Interakteuren allererst ausgehandelt werden muss.
Um diesen Vorgang etwas anschaulicher zu machen, kann man sich das Funktionieren des Diskurssystems am besten, wie Jürgen Link es vorgeschlagen hat, als eine Maschine zur Reproduktion von Diskursen und der in und mit ihnen eingenommenen diskursiven Positionen vorstellen, als eine Maschine, „die zunächst einmal unabhängig von bestimmten, individuellen Interakteuren ‚laufen‘ kann“. Diese Maschine ‚Diskurssystem‘ hält nun in Form der angebotenen diskursiven Positionen attraktive Schnittstellen für Individuen bereit. Dabei sind die einzelnen Individuen durchaus austauschbar, denn ihre ‚Eignung‘ resultiert nicht aus ihren mitgebrachten Charaktereigenschaften, sondern aus dem „Grad der Kompatibilität ihrer sprachlichen, diskursiven und subjektiven […] ‚Sozialisation‘“ mit der jeweiligen Diskursposition. „Dieser empirische Vorgang des austauschbaren ‚Eintretens‘ verschiedener und wechselnder Individuen in analoge vom Diskurs parat gehaltene Positionen ist nichts anderes als der empirische Prozess der Subjektbildung als ‚Wir‘-Bildung“, also derjenige der Identitätsbildung.6 Die diskursiven Positionen und die Elemente, die sie ausmachen, sichern die dafür nötige Kohäsion, das heißt, wir haben es in die eine Richtung gedacht mit einem Prozess der Ver-Subjektivierung von Diskurselementen und -positionen zu tun, in der anderen Richtung mit dem Andocken an diskursive Positionen.
Noch einmal sei betont: Es besteht keine Vorgängigkeit der Subjekte, „vielmehr bilden sich konkrete Subjekte […] in den ‚Hohlformen‘ allererst heraus, die der Diskurs für Subjekte ‚anbietet‘“.7 Wer also nach ‚Identität‘ fragt, ist gut beraten, sich mit diesen ‚Hohlformen‘, also den Interdiskursen der betreffenden Kultur, zu beschäftigen.
Aus einer soziologischen Perspektive sieht auch Heike Delitz Identitäten als kulturell erzeugte Gegenstände an, als
Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogene Artefakte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz.8
Nun sind moderne Gesellschaften jedoch nicht nur durch Wissensteilung (in Spezialdiskurse), sondern auch durch Macht(ver)teilung gekennzeichnet, zum Beispiel in Form von Klassen, Schichten oder Normalitäten. „Deshalb entwickeln […] sich in ihnen“ neben den assoziativen auch „dissoziierende Tendenzen“, viele kleine Sub-Assoziationen, die zur Identitätsdiffusion führen können.9 Solche Tendenzen des Auseinanderdriftens „werden entweder erfolgreich unterdrückt“ oder führen zu Friktionen und eventuell sogar Spaltungen der ursprünglichen Assoziation, was in ein unverbundenes Nebeneinander oder auch ernsthaftere soziale Konflikte münden kann.
Hinzu kommt noch eine zweite Verwerfung: Moderne Gesellschaften „tendieren zur ‚ Atomisierung ‘ (Isolierung und ‚Autonomie‘) ihrer Individuen“. Das führt einerseits zu einer gewissen „Dominanz der Ich-Subjektivität über die kollektive Wir-Subjektivität“, was dann wiederum kompensierende Tendenzen verstärkter Assoziation auf den Plan ruft.10
II.2 Was leistet der Ansatz?
Was kann der skizzierte interdiskurstheoretische Zugriff nun leisten? Er erlaubt es, Identität in zwei Dimensionen zu denken, die sonst eher je separat behandelt werden, nämlich erstens derjenigen der horizontalen Wissensteilung und zweitens derjenigen der vertikalen Machtteilung. Damit gibt der Ansatz eine spezifische Antwort auf die Frage, wie in modernen Gesellschaften Identität entsteht, wobei er es erlaubt, mehrere kollektive und individuelle Identitäten zugleich anzunehmen. Damit kann er das Nebeneinander der (vielen) Assoziationen und Sozialkörper, denen ein empirisches Subjekt angehören kann, und zugleich von Friktionen zwischen ihnen denken.
Der von der Interdiskurstheorie angebotene Identitätsbegriff ist von daher ein offener, der Vielfalt zeitlich parallel und ebenso im historischen Wandel zu verorten erlaubt. Weiter liegt ein wichtiges Potenzial des Ansatzes darin, einen integrierenden Zugriff auf Texte und Dokumente ganz verschiedener Provenienz zu ermöglichen. Kunstliterarische Texte, Alltagsrede, politische Verlautbarungen, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Rahmen von Nationen-, Regionen- und Europabildern, historisches und aktuelles Material werden über die Analyse der verwendeten Interdiskurselemente aufeinander beziehbar und damit ein Stück weit auch die verschiedenen Prozesse der Identitätskonstruktion.
III. Identitäten in der Ruhrgebietsliteratur
Literatur nun – und damit komme ich zu den konkreten Texten aus dem Ruhrgebiet – macht als hochgradig interdiskursiver Spezialdiskurs in vielfältiger Weise Angebote zur Ausbildung von Identitäten; dies insbesondere dann, wenn ganze Cluster von interdiskursiven Elementen aus dem Alltag oder aus mediopolitischen Zusammenhängen aufgegriffen, weiterverarbeitet und dabei vielleicht sogar kohärent gewertet werden, sodass diskursive Positionen entstehen, denen sich individuelle wie kollektive Subjektivitäten wiederum assoziieren können.
Wie das in einem konkreten Fall aussieht, möchte ich am Beispiel einiger neuerer Texte von Frank Goosen zeigen, die zwischen 2008 und 2012, also rund um das Kulturhauptstadtjahr 2010 („Essen für das Ruhrgebiet“), entstanden sind und damit in einer Zeit, in der Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet Hochkonjunktur hatten. Zu diesen Texten, die sich als eine Art von ‚neuer Heimatliteratur‘ charakterisieren lassen, gehören vor allem die Bände Radio Heimat. Geschichten von zuhause aus dem Jahr 2010, der kurze Reviergeschichten versammelt, der Band Weil Samstag ist. Fußballgeschichten aus 2008 sowie der Roman Sommerfest von 2012, dessen Titel zugleich auf das Kulturhauptstadtjahr wie auch das fußballerische Sommermärchen von 2006 anspielt.1 Diese Texte sind geradezu darauf angelegt, Schnittstellen, das heißt attraktive Diskurselemente für die Ausbildung von Ruhrgebiets-Identitäten (solchen, die das gesamte Revier umfassen, aber auch solchen, die sich nur auf eine einzelne Stadt, wie Bochum, beziehen) anzubieten und solche diskursiven Identitätsmarker bisweilen geradezu zu akkumulieren. Eine der Erzählungen aus Radio Heimat etwa beginnt so:
Wenn ich nicht mehr weiterweiß, fahre ich in Bochum die Alleestraße stadtauswärts, biege, vorbei an dem Gelände „City West“, wo auch die Jahrhunderthalle steht, oben am Hochhaus der Kruppverwaltung links in die Kohlenstraße, dann, vorbei an den Resten des ehemaligen Heusnerviertels, wieder rechts, wo sich neben dem Ascheplatz des SV Germania die Kleingartenanlage Engelsburg e. V. erstreckt.2
Und an anderer Stelle heißt es:
Das Ruhrgebiet hat viele Vorteile: Es gibt hier keinen FC Bayern, auf je hundert Einwohner kommen mindestens zwanzig Frittenschmieden, und auch wenn der Schrebergarten und die Currywurst in Berlin erfunden wurden, ist die Benutzung des einen und der Verzehr der zweiten in dieser Gegend zum selbstverständlichen Bestandteil der Hochkultur geworden.
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