Einer der beiden Fische starb nach achtundvierzig Stunden, ohne dass man gewusst hätte, ob nun der Herr über die Lüfte oder der Herr über die Propaganda verschieden war. Michelle bestimmte, indem sie Denise das Ableben ihres Goldfisches aufnötigte. »Göring hat überlebt, so ist das eben. Du kannst deinen Goebbels selbst ins Klo schmeißen, das mach ich bestimmt nicht für dich.« Sprachlos wohnten Sarah und ich der Szene bei, und mit gesenktem Blick tat Denise wie ihr geheißen. Unsere Passivität sollte Sarah rasch bereuen, als wir am folgenden Tag von Denise’ Klassenlehrerin einbestellt wurden. Sie zeigte uns ein Aufgabenheft voller Herzchen, die sieben unschuldige Buchstaben rahmten: G – u – e – b – e – l – s .
Sie verzieh mir, jedes Mal. Nie grollte sie mir länger als ein paar Stunden, meine gedächtnislose Heilige. Woher soll ich heute Abend die Kraft nehmen, die Frucht der Rebe zu heiligen, den Weinsegen zu sprechen, der den Sederabend eröffnen wird? Sarahs Milde ist unvergänglich, und dennoch wird sich in jenem ersten Kelch Wein der Tod spiegeln. In der Tischmitte thront der Becher für den möglicherweise jederzeit eintreffenden Messias. Doch diese Nacht, diese so andere Nacht wird dem Becher keine Hoffnung lassen: Er wird immer der für die Abwesende sein. Ihre Lippen werden sich dem geheiligten Wein nicht nähern, wenn die fünf Erwachsenen- und zwei Kindermünder den ersten der vier Sederbecher trinken. Ein feierliches Gebet, das ich mit zitternder Stimme werde rezitieren müssen. Dabei werde ich die Brille zurechtrücken, obwohl meine Lider, die ich erst gegen Ende der Lobpreisung des Weins wieder zu öffnen wage, geschlossen sind. Lieber würde ich einnicken, in den rührseligen Erinnerungen der Sklaverei schwelgen und mir weinend ausmalen, wie die Peitschenhiebe der ägyptischen Vorarbeiter auf mich niedergehen.
Aber Sarah wird nicht da sein, und der erste Becher wird gefüllt bleiben. Warum diese Nacht ohne sie? Wie soll ich diese, den anderen allzu ähnliche Nacht überstehen? Seit fünfzig Jahren habe ich Pessach nicht ohne meine Frau gefeiert. Gut vierzig Jahre lang haben Michelle und Denise kein ungesäuertes Brot ohne ihre Mutter gegessen. Die Schwiegersöhne rechnen lieber nicht nach, und die Enkel haben keinen Zeitbegriff. Diese Familie, die Sarah so teuer war. Denise und ihr Pinhas, der mediterrane Märchenerzähler, mit dem sie keine Kinder hat. Dann Michelle und Patrick, die zwei reizende Dämonen zur Welt gebracht haben. Tania, die Ältere, die Rebellin. Und Samuel, inzwischen zwölf, mit seinem glatten, unschuldigen Puppengesicht, das Sarah mit ihren faltigen Händen so gern bis in den letzten Winkel ertastete, wenn er sich bei den Familienessen neben sie setzte. Immer saß er am Sederabend zwischen ihr und mir. Um vom Auszug aus Ägypten zu hören, bereit, mir bei jeder Gelegenheit Fragen zu stellen. Denn so ist es, der Pessachabend ist die Nacht der Überlieferung an die Jüngsten, die Nacht der Fragen. Die Nacht, in der man die Trauer entdeckt.
Die Haggada nennt vier Sorten Kinder, mit denen die Erwachsenen an jenem Abend zu tun haben können: das weise, das böse, das einfältige Kind und das, das-nochnicht-einmal-zu-fragen-versteht. Genau in diesem Moment kriegten sich für gewöhnlich unsere beiden Monster, Samuel und Tania, unter dem liebevollen Blick ihrer Großmutter in die Haare. Und wie im vergangenen Jahr wird Tania, ganz das Vorzeigekind, auch heute Abend die Stimme erheben, um die erste Passage zu lesen: »Was sagt der weise Sohn?« Samuel wird die Geschichte des zweiten Sohnes erzählen wollen, aber die Fingernägel seiner Schwester werden sich Stille gebietend in seinen Oberschenkel krallen. Dann wird es weitergehen wie jedes Mal. Sie wird mit dem zweiten Sohn, dem bösen, fortfahren, dann mit den übrigen und Samuel dabei breit grinsend anschauen. Um schließlich auch noch die übrige Tischgesellschaft mürbe zu machen, wird sie genüsslich mit den Quasten der um ihren Hals geschlungenen Kufiya spielen. Tania trägt sie ostentativ, um uns zu ärgern, vor allem aber, wie sie sagt, um die unglücklichen Unterdrückten auf der Welt nicht zu vergessen. Tania ist fast fünfzehn und kleidet sich mit ihrem Engagement.
Im vergangenen Jahr erlebte Tanias Austauschpartnerin diese Szene mit, ohne einen Mucks zu wagen. Leyla wirkte hin- und hergerissen zwischen der wachsenden Anspannung der Tischgäste und der Freude, an den Traditionen ihrer Gastfamilie teilzuhaben. Ein paar Wochen nach dem Sederabend erzählte meine Enkelin mir, dass ihre Austauschpartnerin tatsächlich noch nie ein Fest mit ihrer Familie gefeiert habe. Als sie nach dem Abendessen wieder in Tanias Zimmer waren, hatten sie sich unterhalten.
Leyla kannte ihren Vater nicht und war in der kleinen Berliner Wohnung, in der Tania damals untergekommen war, allein mit ihrer Mutter aufgewachsen. Als sie jünger war, hatte sie Geschwister gewollt, und später hatte sie ihre Mutter zu überzeugen versucht, den Kontakt zu ihren in der Türkei verbliebenen Cousins wieder aufzunehmen. Doch es war nichts zu machen, im Laufe der Jahre hatte sich die Einsamkeit immer weiter ausgebreitet. Sie war glücklich gewesen, wenn sie neben ihrer Mutter vor dem Fernseher zu Abend aß, beide aufs Sofa gefläzt. Später hatte sie andere Kinder kennengelernt und neue Möglichkeiten entdeckt, den Tag zu beschließen. Erzählen, einander anschauen.
Sie traute sich aber nicht, jemanden zu sich einzuladen, bis zu dem Pflichtaustausch mit einer gleichaltrigen Französin. Die erste Freundin, die sie in einer fremden Sprache und inmitten ihrer exzentrischen jüdischen Familie erlebt hatte. Ihrer eigenen Mutter hingegen konnte sie stets nur für einen Sekundenbruchteil in die Augen schauen. Wenn sie zusammen waren, saßen sie sich nie gegenüber, immer nur nebeneinander. Leyla hatte lernen müssen, das Profil ihrer Mutter zu entschlüsseln, ihre Launen an den Winkeln der Augenlider abzulesen. Traurigkeit zum Beispiel. Sie hatte ihre Mutter weinen gehört, aber nie weinen gesehen. Leyla ahnte ihre Sorgen auf Höhe der Schläfen, an den gräu lichen Wurzeln, die an ihrem prachtvollen schwarzen Haar zehrten, in dem sie sich so gern vergrub. Aber sie kannte die Gesichtszüge ihrer Mutter, die Form ihrer Lippen nicht genau. Keine Küsse, nur ein Hals und das lange Haar, um darin zu vergehen.
Ich versuche, die Nacht zu verlängern und an jenen Morgen zu denken. Wir lagen im Bett. Das gleiche Bett, das gleiche Licht, das durch die Vorhänge milder wurde, bevor es unsere Gesichter traf; und über unsere noch jungen Lippen einen Schatten warf. An den Wänden befand sich damals eine Tapete mit gelblichen Motiven, an deren genaue Form ich mich nicht mehr erinnere. Wir waren wach, eine schlaflose Nacht, Wange an Wange, die Augen der Zimmerdecke zugewandt. Ein paar Stunden zuvor hatte Sarah mir eröffnet, dass sie schwanger sei, dass wir bald Eltern würden. Die Nachricht kam nicht völlig überraschend, wir sprachen schon lange darüber, und ich wusste, unsere bisweilen gereizten Diskussionen würden in diese Nacht münden, da Sarah ihre Hand auf meine legen und mir die Neuigkeit eröffnen würde. Acht Monate später sollte Denise zur Welt kommen.
Auf die sachlichen Diskussionen, die der Ankündigung vorausgegangen waren, folgten jetzt die Panikattacken. Wie konnte man ein Kind dieser Welt aussetzen? Der Welt der Lager, dem kriegerischen 20. Jahrhundert, das seinen überlebenden Kindern lediglich die Perspektive des Kapitalismus bot. In jener Nacht war mir nicht zum Lachen zumute, ich wagte noch nicht einmal, Auschwitz zu erwähnen. »Du sagst ja gar nichts.« Natürlich sagte ich nichts, die Angst drehte mir den Magen um, und die Bilder der aufgeschichteten Toten legten sich über jeden Gedanken an unser Kind. Wenn ich an das Baby dachte, dachte ich an verwesendes Fleisch. Unmenschen. Ich biss die Zähne zusammen, drückte ihre Hand, blieb stumm, unfähig, zu scherzen. Sie war von meiner Reaktion enttäuscht, ich hatte ebenso belanglose wie panische Sätze gestammelt, als plötzlich der Wecker … War ich doch irgendwann eingeschlafen? Noch bei geschlossenen Augen stellten meine Finger das Klingeln ab, während ich versuchte, meine nächtlichen Gedanken zu entwirren. Wache Gedanken, Visionen und Träume, deren Grenzen nicht auszumachen waren. Sarah hatte nicht versucht, mich aus dieser Innenwelt zu lösen, die ich egoistisch zwischen uns errichtete. Sie wusste um meine Angst vor der Vaterschaft, vor dieser Zukunft im Lichte der Massaker, und doch lag sie neben mir in diesem Bett, als der Wecker klingelte. Ob sie geschlafen hatte?
Читать дальше