»Sie sind also Koch, Salomon?« Sarahs Mutter wollte die Situation entspannen, nachdem ihr Mann mir ein Dutzend Fragen zur Selektion am Lagereingang gestellt hatte. »Sie müssen ja ein richtiger Meisterkoch sein.«
»Ich bin Kücheninstallateur, bis ich etwas Besseres finde. Geschickter mit einem Hammer als mit einem Kochtopf!«
»Kücheninstallateur? Das ist ja ein origineller Beruf«, fühlte sie sich verpflichtet, hinzuzusetzen. »Dann sind Sie also … ein Tüftler?«
»Ja, ja, ein richtiger Alleskönner. Aber fragen Sie mich bitte nicht, ob ich einen Blick auf Ihren Ofen werfe. Trotz meines Fachwissens auf diesem Gebiet habe ich da immer gewisse Hemmungen …«
Mein erster KZ-Witz war einfach so herausgerutscht. Ein »Klassiker« für den ersten Sederabend bei meinen künftigen Schwiegereltern. Weder Sarah noch sonst jemand wagte, etwas zu erwidern, das Unbehagen an der Situation befreite mich. Ein kurzes Räuspern, dann entschuldigte ich mich, ich müsse kurz hinaus, und suchte Zuflucht auf der Toilette. Offenbar eine der merkwürdigen Angewohnheiten von Schwiegersöhnen.
Das Abendessen verlief ohne weiteren Austausch mit Sarahs Familie, ihre Eltern sahen mich mit schuldbewusstem Mitleid an. Ich war fehl am Platz, und ihre selbstverständliche Herzlichkeit verstärkte mein Unbehagen nur noch. Die Augen ihres Bruders wiederum wanderten unaufhörlich zwischen meinem Gesicht und der bestickten Tischdecke hin und her. Mein Witz hatte keinen Eindruck auf ihn gemacht. Er raunte die jahrtausendealten Klagen und traute sich nicht, sie deutlich zu artikulieren; wenn die Tischrunde ihn allein singen ließ, füllte mein zukünftiger Schwiegervater jede Atempause, um die Stille zu vermeiden, ihn zu beruhigen und wahrscheinlich unser Unglück zu betonen: »Einst waren wir Sklaven des Pharao in Ägypten. Aber der Ewige, unser G’tt, führte uns hinaus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Hätte der Ewige, gepriesen sei er, unsere Väter nicht aus Ägypten geführt, wahrlich: Wir, unsere Kinder und Kindeskinder hätten auf ewig in Ägypten unterjocht bleiben müssen …«
Trotz meines erbärmlichen Auftritts hatten Sarahs Eltern mich akzeptiert und empfingen mich weiterhin wohlwollend. Leider starben sie zwei, beziehungsweise drei Jahre später, der Abstand von einem Jahr ließ meiner Schwiegermutter Zeit, trauern zu können, dann selbst abzutreten und ihre Tochter vor der eigenen Mutterschaft erwachsen werden zu lassen. »Die Ordnung der Dinge«, hatte ich gewagt, meiner Frau nach der Beerdigung ins Ohr zu flüstern. Was für eine Plattitüde. Verzeih mir, meine heilige Sarah. Die Ordnung der Dinge, aber welche Ordnung? Welche Ordnung soll das sein, den Körper der Geliebten mit feuchter Erde zuzudecken? Ihn Witterung und Würmern auszusetzen, glücklichen Regenwürmern, die bald die letzten Schönheiten meiner Frau betrachten können.
Am folgenden Tag fand der Sederabend bei meiner Tante statt, in Gesellschaft einer ganzen Schar neurotischer Cousins. Ich hätte Sarah auf den Schock vorbereiten sollen. Sie hielt mich schon für übergeschnappt, begriff aber rasch, dass ein Überlebender an Blödsinnigkeit noch zu übertreffen war: durch seinen Namensvetter.
Der erste Teil des Sederabends blieb ohne Zwischenfälle. Das Abendessen verlief gut gelaunt, gespickt mit Erinnerungen an meine Eltern, die ich im Schlaf kannte, die meine Tante jedoch, wie bei jedem Familienessen, unbedingt wieder heraufbeschwören wollte, was Sarah eine Vorstellung vom Charakter ihres Schwiegervaters und ihrer Schwiegermutter vermittelte, die sie niemals kennenlernen würde. Vermutlich halbe Fantasiegestalten, gespeist aus den Bildern, die im Kopf meiner Tante knisterten wie ins Feuer geworfene Tannenzapfen. Sarah gab sich selbstsicher und verstand es, ihre Gesprächspartner mit einem einfachen Kopfnicken oder einem wissenden Blick zu beglücken. Die Schwester meiner Mutter hatte meine künftige Frau bereits ins Herz geschlossen und würde ihr aufmerksames Ohr zu nutzen wissen.
Plötzlich aber, Ägypten schien bereits in weiter Ferne, unterbrach mein Vetter Salomon die Pessach-Lieder und fragte Sarah: »Habt ihr eigentlich schon miteinander geschlafen?«
»Wie bitte?«
»Ich frage, ob du schon mit meinem Cousin geschlafen hast. Sex.«
»Das geht dich nichts an, Salomon«, versuchte ich einzugreifen.
»Aber Salomon darf mir alle Fragen stellen, die er will, Salomon! Dein Cousin und ich sind verliebt, und, ja, wir haben vor, eines Tages zu heiraten.«
»Und der Sex?«
»Kommt nach der Hochzeit …«
Ich drohte zu ersticken, ich musste uns unbedingt da herausholen. Sarah war Salomon gegenüber viel zu nachsichtig.
»Und wenn du mich heiraten würdest?«
»Weißt du, ich habe mir meinen Salomon schon ausgesucht …«
»Aber falls du deine Meinung änderst? Oder uns beide heiraten willst?«
»Ich bin mir nicht sicher, dass das geht.«
Sarahs Tonfall hatte sich verändert.
»Ehe zu dritt, Sex zu dritt!«
Meine Tante gluckste, die Namensvettern meiner Eltern ebenfalls, ich war schweißgebadet. An jenem Abend schlug der Inzest die Shoah um Längen, ich hatte den Eindruck, dass wir diesen zweiten Sederabend nie über die Bühne bekommen würden, wenn nicht ein Wunder geschähe, vielleicht die Ankunft des Messias. Ja, daran hatte ich gedacht, ich, der ungläubige Überlebende. Hatte mein perverser Cousin etwa die Macht, die Existenz G’ttes zu beweisen?
Ich frage mich, was Sarah jetzt wohl täte, wo sie gerade wäre. Wahrscheinlich würde sie leise durchs Zimmer gehen und versuchen, sich fertig zu machen, ohne mich zu wecken. Ihre Füße streiften die Parkettleisten, streichelten sanft den Boden. Ich frage mich das, obwohl ich doch weiß, dass Sarah überall ist. Sarah. Ich mag es, ihren Namen zu flüstern, sie in meine Gedanken einzumauern, um das Vergessen an seinen Streifzügen zu hindern. Ich wickle meine Frau in unsere Teppiche und in unsere Vorhänge ein, ich zerstückle ihr Bild, damit kein Nazi sie ganz erwischen kann. Statt der Lampenschirme sehe ich ihre bläulichen Pupillen, statt der Kopfkissen ihre warmen Hände.
Und ich höre sie schimpfen: »Warum die Nazis, immer noch?« Sie hatte genug von der ständigen Shoah, aber ist es überhaupt möglich, eine Gedächtniswunde zu heilen? Sie infiziert sich immer wieder, sie wimmelt von Sarkasmen. So suchte ich sonntagnachmittags Zuflucht im Café unten, wo zwischen befreundeten Überlebenden der Lagerkrieg tobte, unser Shoah-Café, wo ich ungehindert lachen konnte: »… dein Struthof, eine Kur in den Vogesen, von dieser ver fluch ten Krankenversicherung finanziert … und die Duschen in Bergen-Belsen, ein Luxus, verglichen mit den Thermal bädern in Baden-Baden …« Unsere verborgensten Ängste mischten sich unter unsere spöttischen, notwendigen Tränen.
Der Hass auf den KZ-Humor, den Sarah entwickelt hatte, verstärkte sich nach der Episode mit den Fischen, die, wie sie behauptete, unsere beiden Töchter traumatisiert habe. Denise war damals acht, Michelle sechs. Ich hatte sie am Tag vor dem 14. Juli auf den Jahrmarkt mitgenommen. Nach ein paar Runden Karussell flehten sie mich an, mich beim Entenangeln zu versuchen und einen Goldfisch einzuheimsen. Mit sicherer Hand gewann ich zweimal, und meine Töchter durften jeweils eine mit Wasser gefüllte Plastiktüte nach Hause tragen. Darin schwamm ein winziges geschupptes Viech. Im Auto stritten ihre hellen Stimmen um die Namen für die neuen Freunde, bis ich sie daran erinnerte, dass ich derjenige war, der sie gewonnen hatte, und sie dementsprechend auch taufen durfte. Stille hinten. Lachen am Steuer. Sarah kam spät von der Arbeit zurück und entdeckte die beiden in einer Salatschüssel schwimmenden Goldfische. Ganz aus dem Häuschen übernahm Denise die Vorstellung: »Mama, das sind Goebbels und Göring, sie sind Brüder. Und ihre Namen fangen gleich an! Goebbels gehört mir, und Göring Michelle.« Sarah wurde kreidebleich und brüllte: »Salomon!«
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