1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Es tut mir so leid«, sagte Wick leise, als würde er mit einer Leiche sprechen. Die Anteilnahme, die ich vermisst hatte, war so deutlich herauszuhören und kam aus so tiefem Herzen – als hätte er geweint –, dass ich erstarrte, es erschreckend fand. Was ich brauchte, war seine Stärke, nicht Verzagtheit. »Bleib einfach ruhig liegen. Du solltest jetzt ein Weile keine Schmerzen haben.«
Doch ich hatte Schmerzen, wenn auch nur leichte. Aber ich nickte, um uns beide zu trösten, und schaute aus verquollenen Augen zu ihm auf. Die klaren und schönen Züge seines Gesichts konnte ich trotzdem erkennen, weiß Gott. Das war mir immer noch wichtig.
Er ließ einen Diagnosekäfer über meinen Körper krabbeln. Er war alt und abgegriffen, sein Panzer zerkratzt, aber die Beine fühlten sich weich und glatt an. Überall dort, wo er mich berührte, spürte ich sofort ein Glühen, das schnell wieder abklang. Meine Wunden hatte Wick bereits mithilfe von Heilschnecken geschlossen. Ich erinnerte mich noch von meiner letzten Verletzung an das kühl-kalte Gefühl, während sie über mich krochen. Meine Angreifer hatten Kreativität an den Tag gelegt, hatten Muster in mich hineingeschnitten, Wörter, die niemand verstehen konnte, sie am allerwenigsten. Und die Bewegung der Schnecken hatte die Wörter nachgezeichnet, ihnen absichtslos einen Sinn verliehen.
»Ich würde dich in den Arm nehmen«, sagte Wick, »aber ich habe Angst, dir wehzutun.«
Dann fiel mir ein, dass sie Borne mitgenommen hatten, und ich wollte Wick bitten … aber was? Sie zu verfolgen? Wick sagte, ich solle nicht reden, und: »Es tut mir leid, dass ich nicht hier war. Es tut mir leid, dass sie reingekommen sind.« Doch er war irgendwo anders, machte sich über andere Dinge Gedanken.
»Wie schlimm haben sie dich verletzt?«, fragte er dann mit einer Betonung, die mir klarmachte, was er meinte. Es war eine medizinische Frage, aber nicht die eines Arztes. Er hatte den Überfall auf mich in Gedanken durchgespielt und vermutete das Schlimmste – jetzt musste er wissen, wie weit er mit seiner Diagnose gehen sollte.
»Nur das, was du sehen kannst«, sagte ich, und Wicks Anspannung ließ nach, was mich irgendwie bewegte.
Meine Angreifer waren zu zielstrebig oder zu wenig Mensch gewesen, um mich zu vergewaltigen. Der Älteste von ihnen, der Kleine mit den grauen Augen, war ungefähr elf, hatte strohblondes Haar und zierliche Hände. Und selbst wenn sie es getan hätten, hätte ich es Wick vielleicht nicht erzählt. Aber sie hatten es nicht getan. Zwei von denen mit den Wespenaugen hatten ihre Zungen in meinen Mund geschoben, während sie mich schnitten, aber es hatte sich mehr nach dem Versuch angefühlt, mich mit etwas anzustecken. Ich hatte noch immer einen metallischen Nachgeschmack auf der Zunge.
Inzwischen weinte ich – ein stetiger Strom von Tränen, ohne dass mein Gesichtsausdruck sich änderte. Es gibt eine Grenze dessen, was man ertragen kann. Jenseits davon fängt man an zu spüren, dass der Aufwand, zu überleben, kaum aufzubringen ist. Es wäre besser gewesen, wenn ich auf der Straße überfallen worden wäre. Es wäre besser gewesen, jetzt da draußen auf einer Halde zu liegen, als hier im Herzen der Balcony Cliffs und Wicks Schuldgefühle, seine Sorgen, seine Rücksichtnahme verkraften zu müssen. Gesehen zu werden, wo ich doch am liebsten in ein dunkles Loch gekrochen wäre, zum Sterben oder um mich von meinen Verletzungen zu erholen.
Aber ich ließ Wick seine Arbeit tun und erzählte ihm, wie es passiert war, damit er unsere Verteidigungsmaßnahmen verstärken konnte. Ich war am Leben, und ich wusste aus Erfahrung, dass ich mit der Zeit genug vergessen würde, um wieder so zu tun, als ob wir eines Tages frei sein könnten. Frei von der Stadt, von Mord, von allem. Ich weiß nicht, ob man das Hoffnung nennen kann. Vielleicht war es einfach dumpfe Trägheit.
»Und sie haben Borne mitgenommen«, sagte ich etwas später, unsicher, ob ich die richtigen Worte gefunden hatte. Dass Borne verschwunden war, war ein Gedanke, mit dem ich mich erst mal auseinandersetzen musste, sonst würde ich zusammenklappen.
Wick runzelte die Stirn. »Aber sie haben Borne nicht mitgenommen.« Er nickte in Richtung Wohnzimmer. »Er ist dort drüben.«
Trotz meines tauben Unbehagens, und während der Käfer über meinen Oberkörper krabbelte, empfand ich überwältigende Verwirrung und Erleichterung.
»Haben sie ihn zurückgebracht?«
»Ich glaube nicht. Er war im Gang vor der Tür. Deine Angreifer sind fort. Ich habe ihn wieder hergebracht.«
»Danke«, sagte ich und wusste, dass ihm diese Entscheidung nicht leichtgefallen war.
»Er ist gewachsen«, sagte Wick.
Ich sagte nichts. Ich traute mich nicht. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass Wick sich Sorgen machte oder grübelte, ohne dass es etwas mit mir zu tun hatte. Ich hatte es geschafft, Wick geschlagene zwei Wochen von Borne fernzuhalten.
Der Käfer hatte seine Arbeit beendet.
Wick stand auf. »Du musst dich ausruhen. Ich habe uns Essen mitgebracht. Und unsere Verteidigungsanlagen verstärkt. Ich muss einen Augenblick raus, aber ich bin bald wieder zurück.«
Ich verstand. Er musste sichergehen, dass die Angreifer tatsächlich weg waren. Er musste Schlösser auswechseln und sicherstellen, dass niemand auf dem gleichen Weg hereinkam. Was alles in allem hieß, weitere Ressourcen zu verbrauchen, die wir nicht hatten, und uns beide noch schneller in eine riskante Lage zu bringen. Der brennende Stachel – die brüllende Todesangst – dessen, was passiert war, würde ein paar Stunden lang nicht zurückkehren, als wäre er Lichtjahre entfernt. Ich streckte den Arm aus, um Wicks Wange zu berühren, aber er war zu weit weg.
»Ich hätte hier sein sollen«, sagte er.
»Wenn du nicht zurückgekommen wärst, wäre ich jetzt wohl tot«, sagte ich, aber das war kein Trost. Wenn die Stadt mich wirklich hätte umbringen wollen, dann hätte sie mich, wie die vielen anderen auch, umgebracht.
»Ich sollte Borne mitnehmen«, bemerkte Wick beiläufig.
Ich ächzte. »Nein. Bitte. Nicht.«
Es wäre für Wicks Seelenfrieden besser gewesen, wenn ich es gebrüllt oder genauso beiläufig gesagt hätte wie er. Aber das tat ich nicht. Ich sprach mit dünner, brüchiger Stimme, und Wick konnte nicht dagegen an.
Nachdem er gegangen war, dauerte es eine Weile, bis ich merkte, dass ich nicht schlafen konnte, und ich beschloss, aufzustehen. Es tat weh, aber ich war schon wieder rastlos, nicht an Bettruhe gewöhnt. Ich wollte los und Borne sehen. In meinem veränderten Bewusstseinszustand machte ich mir Sorgen, dass meine Angreifer ihn vielleicht auch verletzt hatten. Vielleicht wollte ich auch nur sichergehen, dass Wick ihn nicht mitgenommen hatte.
Er saß auf einem Stuhl in der Küche und pulsierte in einem schwachen Gold-Grün. Wick hatte einige meiner Leuchtkäfer repariert, aber nicht allzu viele, und so war alles, was ich sehen konnte, das Glühen von Borne.
Borne war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als am Nachmittag und am Fuß dicker und kräftiger. Von der Sitzfläche aus ging er mir fast bis zur Schulter. Ich konnte keinerlei Verletzungen an ihm erkennen – seine Symmetrie war weiterhin perfekt. In der Dunkelheit sah er wunderschön aus. Voller Kraft.
»Ich bin’s nur«, sagte Borne.
Ich schrie gellend auf. Ich stolperte zurück, sah mich nach einer Waffe um – einem Knüppel, einem Messer, irgendwas. Seine Stimme klang wie das Krächzen des Jungen mit den grauen Augen.
»Nur ich«, sagte Borne. »Borne.«
Nur ich.
Die Würmer, die Wick mir eingesetzt hatte, kämpften damit, beruhigende Drogen freizusetzen. Ich zitterte. Ich stieß unkontrollierte Laute aus.
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