Wenn Borne bemerkte, dass ich ihn anstarrte, gab er ein Geräusch von sich, das wie ein erstauntes Räuspern klang, und dann schluckte sein Körper alle Augen bis auf zwei, die an seinem Körper entlang nach oben und weiter auseinander wanderten. Manchmal wanderten sie wieder hinunter, bis auf Hüfthöhe, aber wenn sie ihre Position auf seinem Torso gefunden hatten, wurden sie größer, nahmen eine meerblaue Farbe an und ließen lange, dunkle Wimpern wachsen; sie bewegten sich unabhängig voneinander.
Er glaubte wohl, so normaler auszusehen.
Am sechsten Tag fühlte ich mich klarer und nur noch leicht benebelt. Wick war, wenn auch ungern, wieder hinausgegangen, um seinen Geschäften nachzugehen. Er hatte meine Angreifer nicht gefunden, und ich wusste, das würde er auch nie. Wir hatten nicht mehr über die Ereignisse gesprochen und sonst auch nicht viel. Wenn er hereinkam, gab ich sogar vor zu schlafen. Meine Energie reichte nur für Borne.
Vom Bett aus stellte ich Borne eine Frage. Es war tatsächlich die einzige Frage – eine gefährliche Frage, passend zur gefährlichen Gemütslage. Ich war immer noch auf Drogenwürmern, und ich wollte nützlich sein, etwas tun, anstatt einfach hier zu liegen.
»Was bist du?«
Mein Herz schlug schneller, aber ich hatte keine Angst. Nicht wirklich.
»Ich weiß nicht«, sagte Borne mit rauer und zugleich sanfter Stimme. Einen Augenblick lang war ich verwirrt und glaubte, er würde mit den Stimmen meiner beiden Eltern gleichzeitig sprechen. Dann, aufrichtig und eifrig: »Weißt du, was du bist?«
Ich ignorierte ihn. »Lass uns etwas spielen, um herauszufinden, was du bist.«
Borne schwieg einen Moment lang, seine Farben wurden blass. Dann flackerte er wieder auf.
»Okay«, sagte er. »Okay!«
»Dann musst du aber ehrlich sein.«
»Ehrlich.« Er schien das Wort von allen Seiten zu begutachten.
»Die Wahrheit sagen.«
Wellen von kräftigem Violett liefen über seinen Körper.
»Ehrlich. Ich kann ehrlich sein. Ich bin ehrlich. Ehrlich.«
Hatte ich ihn verärgert oder irgendein anderes Gefühl ausgelöst, oder probierte er nur das Wort aus?
»Du weißt eine Menge über mich«, wagte ich mich weiter vor. »Aber ich weiß nichts über dich. Bei dem Spiel geht es um Fragen. Willst du ein paar Fragen beantworten?«
»Ich will Fragen beantworten«, sagte Borne und klang unsicher. Verstand er das Wort »Fragen«?
»Bist du eine Maschine?«, fragte ich.
»Was ist eine Maschine?«
»Etwas Hergestelltes. Etwas, das von Menschen hergestellt worden ist.«
Das verwirrte Borne, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sagte: »Du bist etwas Hergestelltes. Zwei Menschen haben dich hergestellt.«
»Ich meine, etwas aus Metall oder Fleisch Hergestelltes. Nicht durch einen natürlichen biologischen Prozess.«
»Zwei Menschen haben dich hergestellt. Du bist aus Fleisch hergestellt«, sagte Borne. Er schien aufgewühlt zu sein.
»Warum hast du mich nicht vor den Jungen bewahrt?«
»Bewahrt?«
»Gerettet. Mir geholfen. Sie abgehalten, mir wehzutun.« Es folgte eine Pause, und alles an Borne erstarb, bis er nur noch eine graue Form war. Selbst die Augen verschwanden.
Dann kamen mit einer Explosion von Rot- und Rosatönen und einem aufgewühlten, stürmischen Grün die Farben zurück. Die Augen sprangen als ein rotierender Halo wieder auf, eingelassen in die Haut knapp unterhalb seiner oberen Öffnung. »Aber ich habe geholfen! Ich habe geholfen! Ich habe Rachel geholfen. Ich habe geholfen«, sagte er in einem gequälten Tonfall.
Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. Der Geist von Mord kam über mich.
»Diese Jungen haben mir stundenlang wehgetan.« Ich spieh die Worte geradezu aus. »Das haben sie getan, und du hast nichts gemacht. Sie haben mich schwer verletzt. Und du hättest etwas tun können.«
Wieder Schweigen, dann ein Flüstern: »Ich konnte nicht. Ich habe nicht. Geholfen. Bis.«
»Bis was?«
»Bis ich sie gekannt habe.«
Ich merkte, dass »gekannt« nicht das Wort war, das er meinte. Dass das Wort, nach dem er suchte, vielleicht nicht existierte, dass er möglicherweise versuchte, mir ein oder zwei Dinge auf einmal zu sagen.
»Wie gekannt hast?«
»Ich bin nicht komplett«, sagte Borne. »Ich war nicht komplett. Ich bin nicht komplett.« Er versuchte es mit »zusammengebaut«, was aber nicht half, und beendete den Satz frustriert über die Wörter, was seine gefiederten Pseudofüßchen wie Stacheln abstehen ließ.
»Bist du jetzt komplett? Bewusst?« Ich wollte das Wort »aktiviert« vermeiden, weil es mir Angst einjagte.
»Mehr komplett«, sagte Borne.
»Du hast sie getötet«, sagte ich ruhig. Aber nicht, bevor sie mich quälen konnten, dachte ich wütend.
»Getötet?«
»Aufgehört zu existieren. Nicht länger am Leben. Tot. Nicht hier.«
Borne wurde von Verwirrung geschüttelt. »Ich kenne sie jetzt. Ich kenne sie.«
»Töten ist schlecht«, sagte ich. »Man sollte nicht töten. Nie töten.« Es sei denn, jemand greift dich an. Es sei denn, du musst. Aber ich dachte nicht daran, Borne den Unterschied klarzumachen, denn mir fehlte die Kraft dazu.
Seine Augen schienen mir nicht länger schön. Sie sahen noch gefangener und erschrockener aus. Bildete ich es mir nur ein, oder war eines von vertrautem Grau? Da wandte ich mich von Borne ab und versank eine Weile in Besinnungslosigkeit. Was einfacher war, als mich damit auseinanderzusetzen, was er gesagt hatte.
Aber warum sollte ich mich abwenden, wenn ich mich doch sicher fühlte?
In der siebten Nacht schlief ich in Wicks Unterkunft, und Mord schlief hoch oben über uns, ausgestreckt auf dem Meer von Lehm und Müll, das die Balcony Cliffs bedeckte. Wir erlebten seine Atemzüge wie eine geisterhafte Wasserbombe, die durch die verschiedenen Schichten hinabstürzte, durch die Balken, die Rigipsplatten, die Stützsäulen und angeschlagenen Torbögen. Sie drangen durch die Atome von einem Dutzend Decken und ließen unsere Körper vibrieren. Nachdem sie sich in unsere Ohren eingenistet hatten, spürten wir sie in unserem Fleisch, und sie klangen unter unserer Haut nach.
Auch sein Gestank drang zu uns, schwach, durch die Schächte und die tausend unregelmäßigen Schichten über uns, durch die Tunnel der Würmer und Käfer. Er kam verzögert, wie der Donner nach einem Blitz, aber dann schnürte er uns die Kehlen zu. Es war der Gestank all der Lebewesen, die Mord in der vergangenen Woche getötet hatte. Konnte Mord riechen, dass wir hier unten waren? Konnte er uns Mäuschen riechen? Uns kleine, menschliche Mäuschen?
Wick lag wie erstarrt da, unfähig, sich zu bewegen, voller Angst, dass es kein Zufall war, dass Mord wusste, dass Wick hier war, und im Morgengrauen kommen und uns aufspüren würde. Eine Zeit lang flüsterten wir nur und bewegten uns wie in Zeitlupe und verhielten uns in jeder Hinsicht so, als wären wir U-Boote und Mord über uns wäre ein Torpedoboot, das nach uns suchte. Sogar beim Flüstern legte Wick seinen Mund direkt an mein Ohr. Er konnte nicht aufhören, von Gerüchten zu erzählen, dass Mord-Proxys gesichtet worden waren, dass sie in der Stadt und im Hinterland nach etwas gesucht hatten. Was sie gesucht hatten? Wick wollte es nicht sagen, aber ich hatte das Gefühl, er wusste es.
Als Mord anfing, im Schlaf zu stöhnen, flüsterten wir nicht einmal mehr. Sein Stöhnen klang wie zermalmte, zertrümmerte Worte, die durch die Erddecke gefiltert wurden, und wir konnten sie nicht verstehen. Ich wusste nur, dass sie sich nach Angst anfühlten.
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