Mein Vater muss mir und meiner Mutter zuliebe heiter gewesen sein. Sie konnte eines Tages vielleicht in ihre Heimat zurückkehren. Er nicht, und es kam nur sehr selten vor, dass wir jemanden trafen, der auf der Insel gelebt hatte. Die Geschichten, die er erzählte, langweilten mich irgendwann in ihrer ewigen Wiederholung, aber heute ist mir klar, dass er einfach nur versuchte, diesen Ort durch den Kompass seiner Erinnerungen neu erstehen zu lassen.
Während all der Zeit vergaßen meine Eltern meine Bildung nicht. Nicht das, was man in der Schule lernte, sondern das, was wirklich wichtig war. Welche Werte zählten. Was man bewahren sollte. Was man loslassen konnte. Wofür man kämpfen und was man abwerfen sollte. Wo die Fallstricke lagen.
Einmal fanden wir einen gewissen Frieden. Mein Vater hatte uns zu einer anderen Insel gebracht: Es war nicht dasselbe, überhaupt nicht, aber ob aus einer vergeblichen oder einer tapferen Anwandlung heraus, oder beidem, wollte er das, was er kannte, wieder auferstehen lassen. Fast zwei Jahre führten wir dort ein gutes Leben. Eine Stadt, um darin zu leben, ein Strand zum Spazierengehen, ein botanischer Garten; ich konnte mit Kindern spielen, die aussahen wie ich. Wir lebten in einer kleinen Zweizimmerwohnung, und mein Dad baute im Garten ein Auslegerkanu mit einem Motor vom Schrottplatz. Meine Mutter arbeitete wieder als Ärztin und wurde in Naturalien bezahlt.
Wann immer Nachrichten vom Festland kamen – und jedes Mal deutete sich an, dass alles immer schlimmer wurde –, versuchten meine Eltern, diese von mir fernzuhalten, so lange sie konnten. Und eines Tages der Schock: Wir wurden von Soldaten auf eine überfüllte, dieselspuckende Fähre getrieben und aufs Festland gebracht, in ein weiteres Lager. Das grün-blaue Wasser, das Boot meines Vaters und unsere Wohnung waren Vergangenheit.
Von da an wurde alles schlimmer, nicht besser. Es wurde schlimmer und immer noch schlimmer, bis es nicht einmal mehr Lager gab. Es gab nur noch uns, die wir durch ein Land zogen, das in manchen Gegenden von Vernunft, in anderen von Wahnsinn regiert wurde. Freundlichkeit und Grausamkeit hatten manchmal die gleiche Quelle. Mein Vater hatte ein Messer im Stiefel, und meine Mutter und er trugen abwechselnd einen kleinen Revolver. Es war genauso wahrscheinlich, auf Gräben voller halb verkohlter Leichen zu stoßen wie auf mit Schrotflinten bewaffnete Farmer und ihre Söhne. Einmal lud uns ein grinsender Mann in sein Haus ein und versuchte, meine Mutter zu vergewaltigen. Mein Vater kam mit einer langen Narbe am linken Arm davon, und wir hielten uns von da an von Hauptstraßen fern.
Manchmal hungerten wir lieber, als uns den Reihen der Flüchtlinge anzuschließen, die auf eine Illusion zumarschierten, ein langsamer, trauriger Marsch. Die Nebenstraßen, auf denen wir uns bewegten, waren graue Schlangen vor der Schwärze der Wälder oder des Ödlands. Die fernen Lichter einer Hütte erweckten in uns erst Furcht und dann Vorsicht, und dann machten wir einen Bogen um sie.
Wir glaubten schon seit Monaten nicht mehr, dass es irgendwo einen Zufluchtsort für uns gab, da tauchte in der Ferne auf einem Hügel eine Stadt auf, die in der Dämmerung übernatürlich wirkte wie ein auf die Erde gefallener Kristalllüster oder ein gestrandeter, auf die Seite gekippter Ozeanriese. Ich konnte die Augen nicht abwenden und bekniete meine Eltern, dorthin zu gehen. Sie ignorierten mich. Sie sollten recht behalten. Tagelang schien die Stadt an unserem Horizont auf, und in der Nacht des neunten Tages – wir hatten uns an ihrem östlichen Rand durch Wald und Steppe gekämpft – ging sie in Flammen auf, gingen all die glitzernden Lichter in einer riesigen Feuersbrunst unter, die im Umkreis mehrerer Kilometer die Dunkelheit vertrieb. Von der Stadt her kamen die Bomber mit rot blinkenden Positionsleuchten geflogen, und wir unten auf der Erde staunten über diesen Anblick, denn wir hatten schon seit Jahren kein Flugzeug mehr gesehen. Etwas so Altes und so Neues. Wir fragten uns, ob die Flugzeuge bedeuteten, dass es wieder bergauf ging, dass es vielleicht wieder so etwas wie ein normales Leben geben würde. Aber das war bloß eine Illusion. Sie bedeuteten gar nichts.
Wir beeilten uns, weiter nach Osten zu kommen, und fürchteten den Exodus der Überlebenden, als wäre er eine Welle, die über uns zusammenschlagen würde, dabei waren sie nicht anders als wir. Dann kamen Tage mit dichtem, pulvrigem, schwarzem Rauch, der den rußigen Regen sättigte, und aus der Erde krochen Würmer und Kaninchen und anderes sterbendes Getier.
Nicht lange, und wir würden uns gerne an diese Tage erinnern. Aber die ganze Zeit über gaben meine Eltern die Hoffnung nie auf, suchten weiter nach einem sicheren Ort. Sie würden nie aufgeben. Sie gaben nie auf. Ich wusste das und weiß es auch jetzt, da sie tot sind.
Ich habe Borne noch mehr erzählt, aber ich kann mich nicht dazu bringen, es aufzuschreiben, weil es zu schrecklich ist, um es in Worte zu fassen. Außerdem steuert es auf den einen Punkt zu, an den ich mich nicht erinnern kann: Wie ich in diese Stadt kam, und was mit meinen Eltern passiert war. Meine letzten Erinnerungen sind Flutwellen und provisorische Flöße und die um sich greifende Stille toter oder sterbender Menschen im Wasser – und eine Spur von Land am Horizont. In meinen letzten Erinnerungen gehe ich zum zweiten und dritten Mal unter, meine Lungen voller Schlamm.
Aber als ich wieder zu mir kam, war ich in der Stadt und lief. Ich lief am Fluss entlang, als wäre ich schon immer dort gewesen.
Allein.
WAS ICH ALS NÄCHSTES TAT, AUCH WENN ES VIELLEICHT FALSCH WAR
Obwohl es in meinem Zimmer kein fließend Wasser gab, was jedem klarsichtigen Besucher sofort auffallen musste, trotz des Schimmels, der den Kampf mit den Leuchtkäfern in der Zimmerdecke aufgenommen hatte, trotz der schwer beschädigten Mauer mit dem Fenster, das auf einen Berg Müll hinausging … trotz alldem und der Geschehnisse auf den Straßen, wo eine müde und dreckige Person mit einer anderen, die ebenso müde und dreckig war, um ein Stück Schrott kämpfte, das in der alten Welt für wertlos oder ekelerregend befunden worden wäre … trotz alldem konnte ich mir immer noch eine Zeit ausmalen, in der die kleinen Dinge, die wir geliebt hatten, wieder zu uns zurückkehren würden.
»Ich bin’s nur«, sagte Borne, und eine ganze Zeit lang, während der ich zusammengekauert auf meinem Bett lag und versuchte, wieder gesund zu werden, antwortete ich nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Ich warf ihm nur ein paar zusammenhanglose, überflüssige Worte hin. Von Zeit zu Zeit tauchte Wick neben ihm auf, nur um gleich wieder zu verschwinden. Manchmal spürte ich, dass er seinen Arm um mich gelegt hatte. Manchmal bemerkte ich, wie er mich mit einem Ausdruck von Schuld und, wie ich glaubte, Misstrauen anstarrte.
War er wegen Borne misstrauisch? Borne hatte sich seit dem Überfall noch einmal verändert. Er hatte die Form einer Seeanemone zugunsten der einer langen Vase oder eines Tintenfischs abgelegt, der auf einem abgeflachten Sockel stand. Die Öffnung an seinem oberen Ende hatte sich nach außen gerollt und zu etwas gestreckt, was ich als langen Hals interpretierte, aus dem fedrige Fasern wuchsen, was etwas aufgesetzt aussah. Die Fasern drängten sich mit einem lang gezogenen, weichen Seufzer aneinander und trennten sich wieder wie bizarr synchronisierte Tänzer. Er war jetzt so groß, dass sein oberes Ende das Bett um gut einen halben Meter überragte. Immer noch huschten Farben über seinen Körper oder trieben träge dahin wie vom Sturm zerfetzte, einander überlagernde, dunkle Wolken. Azur. Lavendel. Smaragdgrün. Immer wieder roch er nach Vanille.
Als ich so auf der Seite lag und ihn mit einer Mischung aus Neugierde und Angst anstarrte, bemerkte ich, dass Borne eine erstaunliche Ansammlung von Augen rund um seinen Körper ausgebildet hatte. Jedes Auge war klein und von den anderen völlig verschieden. Einige waren Menschenaugen – hatten blaue, schwarze, braune, grüne Pupillen –, einige Tieraugen, aber er konnte offensichtlich mit allen sehen. Sie machten mich ratlos, weil ich nicht wusste, was sie bedeuteten. Ich beschloss, sie als eine Art merkwürdigen Schmuck zu sehen, Bornes Entsprechung eines Gürtels.
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