»Ich schätze«, fasst sie zaghaft zusammen, »wenn wir feststellen können, wie die normale kindliche Entwicklung abläuft, in welchem Alter Kinder zwischen A und B unterscheiden, in welchem Alter sie lernen, dieses oder jenes Werkzeug zu benutzen, oder zum Beispiel zwischen einer funktionalen Eigenschaft eines Werkzeugs, wie seiner Länge oder seiner Form, und einer anderen zwar reizvollen, aber nichtfunktionalen Eigenschaft wie seiner Farbe zu unterscheiden, dann können wir sagen, ob ein bestimmtes Kind sich mehr oder weniger innerhalb der Norm bewegt, und wo jedes Kind in einem bestimmten Alter in der kognitiven Entwicklung stehen sollte, und wenn wir wollten, könnten wir aus diesen Erkenntnissen pädagogische Aktivitäten entwickeln, um die Kinder im richtigen Moment in die richtige Richtung zu lenken. Wir könnten ihre Entwicklung ein bisschen unterstützen.«
»Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie besorgte Eltern noch darin bestärken, übertrieben viel Aufhebens zu machen? Wie macht sich mein Baby, wie kann ich es in seiner Entwicklung maximal fördern?«
»Das wäre natürlich zu bedenken«, sagt sie lachend, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich sie mag.
»Übrigens«, sage ich zu ihr, »die Texte sind in ausgezeichnetem Englisch geschrieben. Ist es schwierig, auf Deutsch zu forschen und dann alles in Englische übertragen zu müssen?«
Seltsamerweise entpuppt sich dieses Kompliment, geboren aus dem Gefühl, dass ich Sabina Pauen mag und ihr gerne etwas Nettes sagen möchte, als meine lohnendste Frage bisher. Das Sprachproblem spiele eine große Rolle, sagt sie, vor allem wenn man etwas veröffentlichen möchte, das den sogenannten herrschenden Erkenntnissen vollkommen zuwiderläuft. Zum Beispiel behaupten sie und ihr Team Dinge über neun Monate alte Babys, die zuvor nur für ältere Kinder galten, nämlich dass sie schon vor dem Spracherwerb Kategorien unterscheiden können, was bedeutet, dass das Konzept der Kategorie auch ohne Sprache schon möglich ist. Eine Aussage, die viele anfechten.
»Wenn man Ergebnisse wie diese erzielt, stößt man auf Widerstand seitens der Gutachter, die die Studien lesen, das sind Leute, die sich womöglich einen Namen damit gemacht haben, etwas anderes zu behaupten, oder die einfach ihr Leben lang etwas anderes gelehrt haben. Sie wollen nichts wissen von Forschungsergebnissen, die ihnen zeigen, dass sie sich geirrt haben. Also behaupten sie, Ihr English sei schlecht und Ihr Artikel könne so nicht veröffentlicht werden. Oft denke ich, da wird eine leicht inkorrekte Sprache mit Dummheit gleichgesetzt.«
Das ist definitiv eine Reaktion, die ich in meinen ersten Jahren in Italien selbst kennengelernt habe.
»Die Wissenschaft hat also auch eine orthodoxe, konservative, dogmatische Seite?«
»O ja, auf jeden Fall.«
»Und in dieser Hinsicht gleicht sie tatsächlich einer Religion. Sie will nicht, dass ihr Glaube infrage gestellt wird.«
»Vermutlich, ja. Obwohl die wissenschaftliche Methodik vorschreibt, dass alle Fakten durch Experimente überprüfbar sein müssen, die beweisen könnten, dass sie falsch sind. Sie müssen widerlegbar sein, so sagt man, anfechtbar. Manchmal haben wir Studien mit aufregenden Ergebnissen rausgeschickt, die wir für absolut wasserdicht hielten, und sie wurden uns mit Kommentaren zur englischen Sprache zurückgeschickt. Daher ist es wohl ermutigend, aber zugleich auch deprimierend, dass Sie, ein Schriftsteller und Übersetzer, mir sagen, das Englisch sei ausgezeichnet.«
»Ja, es ist gut. Ich hatte absolut kein Problem damit.«
Es gibt keinen besseren Weg, Freundschaft zu schließen, als dem anderen die Möglichkeit zu geben, seinem Unmut Luft zu machen, und dann zuzustimmen, dass er oder sie schlecht behandelt worden ist. »Ich habe einen Freund«, fange ich an, »der jedes Mal wie ein Wahnsinniger darum kämpfen muss, dass seine Sachen veröffent licht werden.«
Aber ehe ich mir anschaue, wie sie auf Riccardos ernstlich radikale Ideen reagiert, denke ich, es könnte klug sein, sie zum Mittagessen einzuladen. Sie nimmt sofort an.
»Es gibt keine Bilder!«
Damals fiel mir Riccardo Manzotti zum ersten Mal auf. Er war im Publikum, stand auf und sagte diesen Satz, auf Englisch, mit viel Nachdruck und einem starken italienischen Akzent.
Das war im September 2009, auf einer Konferenz über Kunst und Neurowissenschaft an meiner Uni in Mailand, einem von diesen Foren, zu denen Leute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen eingeladen werden, um die Detailstudien ihrer jeweiligen Disziplin vorübergehend außer Acht zu lassen und ihre Arbeit in den allgemeineren Kontext menschlicher Erfahrung zu stellen. Der offizielle Titel, »Neuro-Ästhetik: Wenn Kunst und Gehirn kollidieren«, klang nicht direkt vielversprechend. Vielleicht lag es daran, dass die Stimmung ungewöhnlich an gespannt war; die Kunsthistoriker und Kritiker waren besorgt, dass sie den Wissenschaftsjargon nicht verstehen würden, die Wissenschaftler fürchteten, ihre Arbeit könne allzu nüchtern und starrsinnig wirken.
Von meinem Institutsleiter zwangsverpflichtet, brachte ich einen Beitrag zum Thema »Die Substanz der Wörter« ein, in dem ich mich damit beschäftigte, wie schwierig es ist, sich überhaupt vorzustellen, auf welche Weise die Sprache dem Gehirn und dem Körper sozusagen anhaften und dadurch zu einem realen Teil unserer physischen Erfahrung werden könnte. Im Allgemeinen, argumentierte ich, schien die Sprache dazu berufen, eine separate Welt aufzubauen, indem sie uns aufforderte, uns von der Welt zugleich zu abstrahieren und mit ihr zu verknüpfen, uns in einem Umfeld aus Wörtern, Rhythmen und Syntax zu bewegen, und unsere Erfahrung in zwei Kategorien aufzuteilen, einerseits die geistige, andererseits die körperliche.
Insbesondere hatten wir, nachdem wir alles, was wir sehen und anfassen konnten – Vögel und Säugetiere, Steine und Bäume, Alltagsgegenstände –, und dann auch alles, was wir als Emotionen erlebten – Angst, Hoffnung, Glück, Trauer –, mit Wörtern belegt hatten, uns auch noch angewöhnt, Wörter für Dinge zu erfinden, die wir weder je gesehen noch je gefühlt hatten, von denen wir aber gerne glauben wollten, dass sie trotzdem existierten: Engel, Teufel, Feen, Gott. Das Ich war auch eines dieser erfundenen Wörter, erklärte ich, eine Entität, die niemand je wirklich bezeugt oder erfasst hatte, und »Identität«, »Persönlichkeit«, »Charakter«, »Seele« gehörten ebenfalls in diese Reihe – je mehr Wörter man dafür hat, desto glaubwürdiger wird die Schimäre –, und so war die Illusion entstanden, dass wir als moderne Individuen irgendwie von der physischen Welt getrennt existierten, dass wir nicht dem beständigen Wandel unterworfen waren, dem alle Phänomene um uns herum unterliegen, sondern uns auf einem Strahl von Wörtern durch die Zeit projizieren konnten. Identität war also, kurz gesagt, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählten; Sprache und Wörter bildeten dabei eine enge Allianz mit der internalistischen, kartesianischen Sicht auf die Wirklichkeit: Erfahrung gab es nur in unserem Kopf, wo wir mit uns selbst sprachen, uns im Grunde erst ins Dasein hineinredeten.
Der Vortrag brachte mir zaghaften Applaus ein, aber dann stellte sich heraus, dass sich keiner der anwesenden Neurowissenschaftler mit Sprache, mit Gedichten oder Romanen, beschäftigt hatte und daher niemand etwas zu dem Thema sagen konnte. Die Anwesenden waren mit dem Visuellen befasst, vor allem mit den Reaktionen des Gehirns auf Gemälde und Skulpturen. Star der Show war Semir Zeki, Professor für Neuroästhetik (ein von ihm selbst geprägter Begriff) am University College London. In seinem Vortrag, voller PowerPoint-Bilder, welche komplexe grafische Darstellungen neurologischer Vorgänge und undeutliche Abbildungen unseres Gehirns zeigten, konzentrierte er sich auf die Frage, wie wir auf Ambiguität reagieren, eine Qualität, die für ihn den Kern der ästhetischen Erfahrung darstellt. Einer Gruppe von Freiwilligen war die rubinsche Vase gezeigt worden – das Schwarz-Weiß-Bild, das sowohl aussieht wie eine Vase als auch wie zwei Gesichter im Profil, deren Nasen sich beinahe berühren.
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