Die Tagebücher und andere Materialien bildeten einen modernden Haufen von etwa drei Meter fünfzig Höhe, der am Fuß etwa fünf Meter durchmaß und dort schon in einem fortgeschrittenen Zustand des Kompostierens war; das Papier faulte vor sich hin. Diese Art von Archiv zog unwiderstehlich Käfer und Silberfische an sowie kleine schwarze Kakerlaken, die permanent ihre Fühler kreiseln ließen. Ziemlich weit unten im Haufen quollen Reste von Fotos und Dutzende ruinierter Tonbandkassetten hervor, die sich mit zu Schnipseln zerfetzten Seiten mischten. Rattenspuren von waren nicht zu übersehen. Um überhaupt feststellen zu können, was da alles war, musste ich wohl eine Leiter an den Rand der Falltür befestigen und mich dann über einen einstürzenden Müllberg aus in Auflösung begriffenen Papiers quälen. Die Szene verkörperte indirekt ein Stück der Schrift, auf die ich an der Wand des Turms gestoßen war: Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln …
Ich stürzte den Tisch um und schob ihn gegen den schmalen Einstieg zum Treppenhaus. Ich hatte keine Ahnung, wo die Psychologin abgeblieben war, aber ich wollte vermeiden, dass sie oder irgendjemand anderes mich überraschte. Sollte jemand von unten versuchen, den Tisch wegzuschieben, würde ich es hören und wieder hochklettern und sie mit der Waffe willkommen heißen. Ich hatte außerdem ein Gefühl, das ich im Nachhinein jenem Leuchten zuschreibe, das in mir wuchs: das Gefühl einer Präsenz , die von tief unten hochstieg und von den Rändern meiner Sinne auf mich einwirkte. Immer wieder und völlig unerwartet lief ein Kribbeln über meine Haut, für das es keinen ersichtlichen Grund gab.
Es gefiel mir überhaupt nicht, dass die Psychologin ihre ganze Ausrüstung, darunter die meisten oder sogar alle ihrer Waffen, unten bei den Tagebüchern gebunkert hatte. Aber für den Augenblick musste ich dieses Rätsel aus meinen Gedanken verbannen, genau wie die Nachbeben der Einsicht, dass der größte Teil dessen, was man uns während der Ausbildung erzählt hatte, auf einer Lüge basierte. Während ich mich in den kalten, düsteren Raum hinabließ, spürte ich den Sog des Leuchtens in mir noch deutlicher. Er war kaum zu ignorieren, da ich nicht wusste, was er bedeutete.
Meine Taschenlampe und das natürliche Licht, das durch die offene Falltür fiel, zeigten, dass die Wände voller Schimmelschlieren waren, von denen einige matte rotgrüne Streifen bildeten. Von unten war deutlicher zu erkennen, wie der Müllhaufen an seinem Fuß Wellen von kleinen Hügeln ausgespuckt hatte. Zerrissene Seiten, zerquetschte Seiten, verzogene und feuchte Einbanddeckel der Tagebücher. Man könnte sagen, dass die Geschichte von Area X langsam zu Area X selbst wurde.
Ich hob stichprobenartig ein paar Tagebücher, die am Rand lagen, auf. Meist wurde auf den ersten Blick klar, dass ziemlich gewöhnliche Ereignisse geschildert wurden, wie von der ersten Expedition beschrieben – die nicht die erste Expedition hatte sein können. Einige waren seltsam, weil ihre Datierung keinen Sinn machte. Wie viele Expeditionen hatten die Grenze tatsächlich überschritten? Wie viele Informationen waren gefiltert oder unterdrückt worden, und wie lange schon? Bezog sich »zwölf« nur auf die letzte Phase einer schon viel länger laufenden Operation, und wurde der Rest ausgeblendet, um bei denen, die sich freiwillig bewarben, keine Zweifel aufkommen zu lassen?
Auch stieß ich auf eine Reihe von Berichten in ganz verschiedener Form, die ich zu einer »Vorexpeditionsphase« zählen würde. Das waren die ganz unten liegende Sammlung von Audiokassetten, angenagten Fotos und zerfallenden Aktenordnern, die ich von oben gesehen hatte – alles zerquetscht durch das Gewicht des darüber gestapelten Materials. Alles überzogen von einem dumpfen, feuchten Geruch, der den scharfen Gestank des Zerfalls mit sich trug, wie er nur an ganz bestimmten Orten auftaucht. Ein unglaublicher Wirrwarr von getippten, gedruckten und handgeschriebenen Worten, die sich in meinem Kopf neben mit nur einem Blick gestreiften Bildern stapelten, ein mentales Faksimile des Misthaufens selbst. Das Durcheinander ließ mich manchmal fast erstarren, sogar ohne die offensichtlichen Widersprüche zu erfassen. Langsam dämmerte mir die Bedeutung des Fotos in meiner Tasche.
Es nützte zwar nicht viel, aber ich fing an, Vorgaben zu machen. Ich ignorierte Berichtskladden in Kurzschrift und versuchte nicht die zu entschlüsseln, die chiffriert waren. Ich begann, einzelne Hefte ganz durchzulesen und beschloss bald, nur noch quer zu lesen. Aber nur Stichproben zu nehmen war manchmal noch schlimmer. Ich stieß auf Seiten, wo so unaussprechliche Dinge beschrieben wurden, dass ich mich immer noch nicht dazu zwingen kann, sie aufzuschreiben. Einträge, in denen von »Vergebung« und »Ende« die Rede war, gefolgt von »Auflodern« und »schrecklichen Offenbarungen«. Ganz egal, wie oft ich meine Annahmen über die Existenz von Area X revidieren musste und wie viele Expeditionen es hierher schon gegeben hatte, aus diesen Berichten ging eindeutig hervor, dass in dieser Gegend schon lange, bevor die Grenze sich bildete, merkwürdige Dinge passiert waren. Es hatte ein Ur-Area X gegeben.
Allerdings machten mich offensichtliche Lücken genauso verrückt wie ganz konkrete Beschreibungen. Ein von der Feuchtigkeit halb zerfressenes Tagebuch aus Papier konzentrierte sich einzig auf die Eigenschaften einer Art Distel mit lavendelfarbenen Blüten, die weiter im Landesinneren zwischen Wald und Sumpf wuchs. Seite um Seite war gefüllt mit der Entdeckung erst eines Exemplars und dann eines weiteren, zusammen mit der Beschreibung von Insekten und anderen Lebewesen, die dieses Mikrohabitat bevölkerten. Der Beobachter hatte in keinem der Fälle sich mehr als einen halben Meter von der Pflanze wegbewegt, und genauso wenig irgendetwas in Bezug auf das Basislager oder das Leben dort durchblicken lassen. Nach einer Weile beschlich mich ein ungutes Gefühl, ich begann hinter all diesen Eintragungen etwas entsetzlich Geisterhaftes aufscheinen zu sehen. Ich sah den Crawler oder etwas Entsprechendes im Raum um die Distel auftauchen und die Konzentration des Berichterstatters auf diesen einen Gegenstand als Weg, mit dem Entsetzen umzugehen. Etwas Geisterhaftes hat keine Präsenz, aber mit jeder neuen Beschreibung der Distel wurde das Frösteln stärker, das meine Wirbelsäule hinauf- und hinunterkroch. Als der hintere Teil des Buches sich in verschmierte Tinte und Papierbrei aufzulösen begann, war ich froh, diesen nervenaufreibenden Wiederholungen entkommen zu sein, denn diese Berichte hatten eine hypnotische Wirkung, die einen fast in Trance versetzte, und wäre es endlos so weitergegangen, dann hätte ich wohl eine gefühlte Ewigkeit dort gestanden und weitergelesen, bis ich umgefallen und vor Hunger oder Durst gestorben wäre.
Ich begann mich zu fragen, ob das Fehlen jeglicher Hinweise auf den Turm sich auch mit dieser Theorie erklären ließ, dieses Schreiben immer am Rand der Dinge entlang.
… in den schwarzen Wassern über denen die Sonne um Mitternacht scheint werden die Früchte zur Reife kommen …
Nach diversen banalen oder unverständlichen Stichproben fand ich dann ein Tagebuch, das so ganz anders war als meines. Es datierte aus einer Zeit, da die erste Expedition noch nicht unterwegs, die Grenze sich aber bereits herabgesenkt hatte; dort war die Rede vom »Bau des Walls«, womit eindeutig die Befestigung zum Meer hin gemeint war. Eine Seite später sprangen mir – inmitten esoterischer meteorologischer Beobachtungen – zwei Worte entgegen: »Angriff zurückgeschlagen.« Ich las die wenigen folgenden Einträge sehr sorgfältig. Zunächst machte der Autor keine Angaben zur Art des Angriffs oder der Identität der Angreifer, aber der Überfall war vom Meer aus erfolgt und »hinterher waren vier von uns tot«, obwohl der Wall standgehalten hatte. später wuchs die Verzweiflung und ich las:
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