Auf der Seeseite gab es einen weiteren Wall, ein noch stärker wirkender Festungsbau hoch oben auf den bröckelnden Dünen, dessen Krone Glasscherben zierten. Als ich näher kam, konnte ich auch Zinnen erkennen, wie für eine Reihe von Gewehrschützen gemacht. Alles drohte den Hang hinab auf den Strand zu stürzen. Da dies aber noch nicht geschehen war, musste, wer auch immer den Wall gebaut hatte, seine Fundamente tief im Boden verankert haben. Offenbar hatten die früheren Verteidiger des Leuchtturms im Krieg mit dem Meer gelegen. Ich mochte diesen Wall nicht, den er war ein Zeichen einer ganz spezifischen Art von Irrsinn.
Außerdem hatte irgendwann jemand weder Zeit noch Mühe gescheut, sich an der Außenseite des Leuchtturms abzuseilen und überall Glasscherben anzubringen, mit einem starken Kleber oder Bindemittel. Die Glasdolche fingen etwa im ersten Drittel an und zogen sich den ganzen Leuchtturm hoch bis zum vorletzten Stufe, unterhalb des verglasten Leuchtfeuers. An dieser Stelle hatte man eine Art Metallkragen angebracht, der einen guten halben Meter über den Rand ragte und mit rostigem Stacheldraht verstärkt war.
Irgendjemand hatte sehr viel Arbeit investiert, um andere fernzuhalten. Ich dachte an den Crawler und die Worte an der Wand. Ich dachte daran, dass immer wieder der Leuchtturm im Mittelpunkt der bruchstückhaften Aufzeichnungen der letzten Expedition gestanden hatte. Aber abgesehen von diesen Misstönen war ich froh, den Schatten des kühlen, feuchten Walls auf der Landseite des Leuchtturms erreicht zu haben. Hier konnte mich keine Kugel von ganz oben oder aus dem Fenster in der Mitte erreichen. Der erste Teil des Spießrutenlaufens war vorbei. Wenn die Psychologin sich drinnen aufhielt, dann hatte sie sich gegen Gewaltanwendung entschieden, zunächst einmal.
Der Verteidigungswall auf der Landseite war in einem Zustand der Baufälligkeit, die zeigte, dass hier jahrelang niemand mehr gearbeitet hatte. Ein großes, unregelmäßiges Loch führte direkt zur Eingangstür des Leuchtturms. Die Tür war nach innen aufgebrochen, und nur noch Reste von Holz hingen an den Türangeln. Eine violett blühende Kletterpflanze hatte sich der Leuchtturmwand bemächtigt und ringelte sich um die linke Seite der Türreste. Irgendwie wirkte das tröstlich, und was immer für Gewalttaten sich hier abgespielt hatten, es musste lange her sein.
Trotzdem machte mich die Dunkelheit dahinter misstrauisch. Während der Ausbildung hatten wir einen Grundriss zu sehen bekommen und daher wusste ich, dass der Leuchtturm auf dieser Ebene drei nach außen gelegene Räume hatte, irgendwo links die Treppe nach oben führte und rechts die Zimmer in eine Art Lagerraum mündeten, wo es zumindest noch einen größeren Raum gab. Also jede Menge Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Ich nahm einen Stein, warf ihn rollend auf den Boden hinter der zerschmetterten Tür. Er klapperte und drehte sich über die Steinfliesen und ins Dunkel. Ich hörte kein anderes Geräusch, keine Bewegung, keinen Hinweis auf Atemzüge, außer meinen. Mit einer Waffe in der Hand ging ich so leise wie möglich hinein, schob mich mit der Schulter an der linken Wand entlang und hielt nach der Öffnung Ausschau, wo die Treppe nach oben begann.
Alle äußeren Räume auf der Grundfläche des Leuchtturms waren leer. Der Wind klang dumpf, die Mauern waren dick und nur zwei kleine Fenster zur Türseite brachten etwas Licht; ich musste meine Taschenlampe herausholen. Und während meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, wuchs und wuchs der Eindruck von Zerstörung und Einsamkeit. Die violette Kletterpflanze war nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, in der Dunkelheit gab es kein Blühen. Es gab keine Stühle. Die Bodenfliesen waren mit Dreck und Schutt bedeckt. In diesen Räumen gab es keinerlei persönliche Habseligkeiten. In der Mitte eines großen, offenen Raums fand ich die Treppe. Niemand stand auf den Stufen, um mich zu beobachten, aber ich hatte den Eindruck, dass noch vor Kurzem jemand dagestanden hatte. Ich überlegte, zuerst nach oben zu steigen, ohne die Hinterzimmer zu untersuchen, entschied mich dann aber dagegen. Es war besser, so wie die Vermesserin mit ihrer militärischen Ausbildung zu denken und nachzusehen, ob die Luft rein war, obwohl jederzeit jemand durch die Eingangstür kommen konnte.
Das Hinterzimmer erzählte eine völlig andere Geschichte. Meine Phantasie reichte nicht aus, um mir auszumalen, was sich hier ereignet haben mochte. Hier waren stabile Eichentische umgestürzt und zu einer Art primitiven Barrikade geworden: Einige der Tische waren voller Einschusslöcher, andere von Gewehrfeuer zerfetzt und versengt. Hinter den Überresten der Tische kündeten dunkle, über die Wände und auf dem Boden verteilte Flecken von unaussprechlicher und plötzlicher Gewalt. Auf alles hatte sich Staub sowie der kühle, schale Geruch langsamen Verfalls gelegt, ich sah Rattenkot und in einer Ecke Anzeichen für ein Lager oder Bett, das irgendwann später dort aufgeschlagen worden sein musste. Wobei: Wer konnte zwischen all diesen Spuren eines Massakers schlafen? Auch hatte jemand seine Initialen in einen der Tische geritzt: »R.S. war hier.« Die Kerben sahen frischer aus als alles andere hier. Wer nicht besonders sensibel war, kratzte seine Initialen vielleicht in ein Kriegsmonument. Hier stank es nach Prahlerei, um die Angst zu übertünchen.
Die Treppenstufen warteten auf mich, und um meine Übelkeit zu unterdrücken, ging ich zu ihnen zurück und begann, nach oben zu steigen. Die Waffe hatte ich da schon wieder weggesteckt, da ich meine Hand brauchte, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten, aber ich wünschte mir das Sturmgewehr der Vermesserin. Ich hätte mich einfach sicherer gefühlt.
Es war ein merkwürdiger Aufstieg, das Kontrastprogramm zu meinem Abstieg in den Turm. Das brackige Licht auf den angegrauten Innenwänden war besser als die Phosphoreszenz des Turms, aber was ich dort vorfand, verunsicherte mich nicht weniger, nur auf andere Art. Mehr Blutflecken, meistens dicke Kleckse, als wären Menschen verblutet, während sie versuchten, sich vor Angriffen von unten in Sicherheit zu bringen. Manchmal lange Tropfspuren von Blut. Manchmal Spritzer.
Auch an diesen Wänden fand ich Worte, die aber denen im Turm in nichts ähnelten. Noch mehr Initialen, aber auch kleine obszöne Bildchen und ein paar Mitteilungen persönlicherer Art. »Wenn du das hier liest, sag –––, dass ich sie liebe«, gefolgt von einer Unterschrift. Ein paar längere Hinweise darauf, was wohl passiert sein mochte: »Vier Kisten mit Lebensmitteln, drei Kisten mit medizinischem Bedarf und Trinkwasser für fünf Tage, wenn rationiert; genug Kugeln für uns alle, falls notwendig.« Auch Bekenntnisse, die ich hier nicht dokumentieren werde, die von soviel Ehrlichkeit und Ernst zeugten, wie sie nur jemand an den Tag legt, der damit rechnen muss, in Kürze nicht mehr am Leben zu sein. So viele, die so viel mitteilen wollten, aber so wenig kam dabei heraus.
Ich fand Sachen auf den Stufen … einen weggeworfenen Schuh … das Magazin einer automatischen Pistole … ein paar schimmelige Fläschchen mit Proben, längst verrottet oder widerlich verflüssigt … Kreuze, die so aussahen, als wären sie von der Wand gerissen worden … ein Klemmbrett, dessen Holz durchweicht und dessen Metallteile tief orange vor Rost war … und, am schlimmsten, einen ramponierten Spielzeughasen mit zerfetzten Ohren. Vielleicht ein Glücksbringer, den ein Expeditionsteilnehmer reingeschmuggelt hatte. Soweit ich weiß, gab es in Area X keine Kinder mehr, nachdem die Grenze sich gesenkt hat.
Ungefähr auf halbem Weg nach oben kam ich zu einem Absatz; etwa auf dieser Höhe hatte ich wohl in der Nacht zuvor das Flackern gesehen. Die Stille beherrschte immer noch alles, und für Bewegungen weiter oben gab es keine Anzeichen. Fenster links und rechts sorgten für besseres Licht. Hier hörten die Blutspritzer abrupt auf, auch wenn die Wände von Kugeln durchsiebt waren. Der Boden war von Patronenhülsen übersät, aber jemand hatte sich die Zeit genommen und sie beiseite gekehrt, so dass ein Weg zur Treppe nach oben frei blieb. Links stapelten sich Pistolen und Gewehre, einige schon recht alt und andere offenbar nicht aus Armeebeständen. Es war schwer zu sagen, ob sich kürzlich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Mir fiel wieder ein, was die Vermesserin gesagt hatte, und ich fragte mich, wann ich auf die erste Donnerbüchse stoßen würde oder einen anderen schrecklichen Scherz.
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