Während der Ausbildung wurde uns gesagt, dass die erste Expedition etwa zwei Jahre nach dem ›Ereignis‹ einrückte. Wissenschaftler hatten zuvor herausgefunden, wie man die Grenze überschreiten konnte. Es war die erste Expedition, die das Basislager absteckte und eine erste, ungefähre Karte von Area X erstellte, die bereits viele der Orientierungspunkte enthielt. Sie fanden eine unberührte Wildnis vor, die menschenleer war. Sie fanden, was man eine übernatürlich Stille nennen könnte.
»Ich hatte das Gefühl, freier als jemals zuvor und doch eingeschränkter zu sein«, sagte ein Mitglied der Expedition. »Ich fühlte mich, als könnte ich alles tun, so lange es mir nichts ausmachte, dabei beobachtet zu werden .«
Andere erwähnten euphorische Gefühle und ein extremes sexuelles Verlangen, für das es keine Erklärung gab, und das ihren Vorgesetzten letztlich unwichtig fanden.
Wenn man nach Anomalien in ihren Berichten suchte, dann fand man sie nur bei Nebensächlichkeiten. Erstens brachten sie ihre Tagebücher nicht mit zurück; stattdessen boten sie nach ihrer Rückkehr an, Berichte in langen Befragungen zu liefern, die aufgezeichnet wurden. Für mich war das ein Zeichen, dass sie der direkten Konfrontation mit ihren Erfahrungen aus dem Weg gehen wollten, wobei mir damals auch durch den Kopf ging, dass ich vielleicht, im nicht-klinischen Sinn, an Verfolgungswahn litt.
Einige von ihnen lieferten Beschreibungen des verlassenen Dorfes, die mir nicht schlüssig erschienen. Die Verwerfungen und der Grad der Zerstörung schienen einen Ort zu beschreiben, der schon viel länger als nur ein paar Jahre verlassen war. Aber wenn jemandem diese Merkwürdigkeit früher aufgefallen war, dann hatte das keinen Niederschlag in den Akten gefunden oder war daraus gelöscht worden.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass ich und der Rest der Expedition zu diesen Informationen nur deshalb Zugang hatten, weil es unseren Vorgesetzten völlig egal war, ob wir das wussten oder nicht. Dafür gab es nur eine logische Erklärung: Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass nur wenige, wenn überhaupt jemand, zurückkommen würden.
Das verlassene Dorf war so in der natürlichen Küstenlandschaft aufgegangen, dass ich es erst sah, als ich direkt davorstand. Der Pfad führte in eine Art Senke, und da lag das Dorf, gesäumt von verkümmerten Bäumen. Von den zwölf oder dreizehn Häusern trugen nur noch wenige ein Dach, und der früher gepflasterte Weg war jetzt nur noch mit porösem Schotter bedeckt. Einige der Außenwände standen noch, dunkles verrottetes Holz, von Flechten überzogen, aber bei den meisten Häusern waren die Wände zerfallen und erlaubten mir merkwürdige Einblick in das Innere: Überreste von Stühlen und Tischen, Kinderspielzeug, verrottete Kleidung, eingebrochene Deckenbalken auf der Erde, überzogen von Moos und Ranken. Ein scharfer Geruch nach Chemikalien lag in der Luft, und mehr als ein totes Tier verweste auf dem Mulch. Ein paar der Häuser waren mit der Zeit in den Kanal zur Linken abgerutscht, und ihre skelettartigen Überreste wirkten wie Wesen, die versuchten dem Wasser zu entkommen. Alles sah so aus, als sei vor hundert Jahren etwas passiert und als seien waren nur vage Erinnerungen an dieses Ereignis übrig geblieben.
Aber in den ehemaligen Küchen oder Wohnzimmern oder Schlafzimmern konnte ich ein paar merkwürdige Wucherungen von Moos oder Flechte erkennen, die knapp eineinhalb Meter unförmig aufragten und etwas wie Gliedmaßen und Köpfe und Rümpfe zu bilden schienen. Als wären sie ein Abklatsch jener Substanzen, die – zu schwer für die Gravitation – sich am Fuß dieser Objekte versammelten. Aber vielleicht bildete ich mir diesen Effekt auch nur ein.
Besonders eine Szene rührte an meine Gefühle: Vier solcher Wucherungen, von denen eine »stand« und drei so zerfallen waren, dass sie zu »sitzen« schienen, in einem Raum, der wohl mal ein Wohnzimmer mit Couch und Couchtisch gewesen war – alle starrten auf einen Punkt am anderen Ende des Zimmers, wo nur noch die bröckelnden Überreste der Ziegel eines Kamins samt Schornstein zu sehen waren. Plötzlich lag über Moder und Lehm der Geruch von Limonen und Minze in der Luft.
Ich verbot mir Spekulationen über dieses Tableau, seine Bedeutung oder durch welche Ereignisse es entstanden sein mochte. Dieser Ort strahle alles andere als Frieden aus, es schien eher, als sei etwas ungelöst oder immer noch im werden. Ich wollte hier weg, aber zunächst nahm ich Proben. Ich wollte dokumentieren, was ich gefunden hatte, und ein Foto schien mir angesichts dessen, was mit den anderen Bildern passiert war, nicht auszureichen. Ich schnitt ein Stück Moos aus der »Stirn« einer der Ballungen. Ich sammelte Holzsplitter ein. Ich kratzte sogar das Fleisch toter Tiere zusammen – von einem verendeten Fuchs, zusammengerollt und ausgetrocknet, und einer Art Ratte, die wohl erst vor ein oder zwei Tagen gestorben war.
Kurz nachdem ich das Dorf verlassen hatte, passierte etwas Merkwürdiges. Auf dem Kanal durchschnitten plötzlich zwei Linien das Wasser und bewegten sich in meine Richtung. Mein Fernglas war keine große Hilfe, da das Wasser das blendend helle Sonnenlicht reflektierte. Otter? Fische? Etwas anderes? Ich zog meine Waffe.
Dann brachen Delfine durch die Oberfläche, und ihr Anblick war nicht weniger erschütternd als unser erster Abstieg in den Turm. Ich wusste, dass Delfine sich manchmal in die Kanäle wagten, sich ans Süßwasser angepasst hatten. Aber wenn der Kopf sich eine Reihe von Erklärungen zurechtgelegt hat, ist alles eine Überraschung, was die Erwartungen nicht erfüllt. Dann geschah etwas noch Herzzerreißenderes. Als sie an mir vorbeiglitten, legte sich der mir nähere leicht auf die Seite und starrte mich mit einem Auge an – ein Auge, das selbst in diesem kurzen Aufblitzen nichts Delfinhaftes hatte. Es war schmerzhaft menschlich, ja sogar vertraut. Aber im nächsten Augenblick waren sie vorbei und wieder untergetaucht, und ich hatte keine Möglichkeit zu verifizieren, was ich gesehen hatte. Ich stand da, sah die beiden Spuren im Wasser verschwinden, Richtung verlassenes Dorf. Ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass die mich umgebende Natur nichts als eine Art Ablenkungsmanöver war.
Leicht erschüttert ging ich weiter auf den Leuchtturm zu, der jetzt größer vor mir aufragte, fast schon erdrückend. Mit den schwarzweißen Streifen, die rot abgesetzt waren, hatte er etwas Gebieterisches an sich. Auf dem letzten Stück Weg gab es nichts mehr, wo ich hätte Deckung suchen können. Wer oder was auch immer dort oben sein mochte, ich war ein Fremdkörper in dieser Landschaft, etwas Unnatürliches. Vielleicht sogar eine Gefahr.
Als ich den Leuchtturm schließlich erreichte, war es Mittag. Ich hatte sorgsam darauf geachtet, immer wieder Wasser zu trinken, und sogar eine Kleinigkeit gegessen, war aber trotzdem erschöpft. Vielleicht hatte mich der Schlafmangel jetzt doch eingeholt. Ich erinnerte mich an die Warnung der Vermesserin und war die letzten paar hundert Meter bis zum Leuchtturm durchaus angespannt. Ich hatte die Pistole gezogen und hielt sie zu Boden gerichtet, was auch immer ich damit gegen ein Hochleistungsgewehr würde ausrichten können. Immer wieder sah ich wachsam zu dem kleinen Fenster auf halber Höhe inmitten der schwarzweißen Ringe hinauf, und dann noch weiter zum großen Panoramafenster ganz oben, ob sich etwas bewegte.
Der Leuchtturm stand direkt am natürlichen Scheitelpunkt der Dünen, die zum Meer hin in Wellen abfielen und in den Strand übergingen. Von Nahem machte er stark den Eindruck, als sei er zu einer Festung umgebaut worden – was bei unserer Ausbildung praktischerweise unerwähnt geblieben war. Das bestätigte nur meinen bereits aus größerer Entfernung gewonnenen Eindruck: Obwohl das Gras immer noch hoch stand, fehlte auf den letzten fünfhundert Metern des Pfads jeglicher Baumbestand. Nur alte Stümpfe waren zu sehen. Bei zweihundertfünfzig Metern hatte ich einen Blick durch das Fernglas geworfen und dabei einen etwa drei Meter breiten Wall entdeckt, der den Leuchtturm auf der Landseite umgab und ganz offensichtlich nicht Teil der ursprünglichen Anlage war.
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