Nachdem ich so lange in dieser Enge gesteckt hatte, brauchte ich frische Luft und wollte den Wind spüren. Ich legte alles, was ich mitgenommen hatte, auf einen Stuhl und öffnete die Schiebetür, um mir auf dem rundum laufenden Sims die Beine zu vertreten. Der Wind zerrte an meiner Kleidung und war wie eine Ohrfeige. Die plötzliche Kühle war reinigend und der Blick sogar noch besser. Ich konnte rundum bis zum Horizont blicken. Aber nach einem Augenblick brachten mich Intuition oder eine Vorahnung dazu, direkt nach unten zu schauen, hinter die Überreste des Walls, runter zum Strand, der selbst aus dieser Perspektive teilweise vom Kamm der Dünen und dem Wall verdeckt war.
An dieser Stelle zeichnete sich im aufgewühlten Sand ein Fuß und der untere Teil eines Beins ab. Ich richtete das Fernglas auf den Fuß. Nichts regte sich. Ein vertrautes Hosenbein, ein vertrauter Stiefel mit glatter Doppelschleife. Ich klammerte mich an das Geländer, um dem Schwindel nicht nachzugeben. Ich kannte die Besitzerin dieses Stiefels.
Es war die Psychologin.
Alles, was ich über die Psychologin wusste, hatte ich durch Beobachtung während unserer Ausbildung gelernt. Sie hatte sowohl als unsere Aufseherin fungiert, die auf Distanz blieb, als auch in einer eher persönlicheren Rolle als Beichtvater. Vielleicht hatte ich einiges unter Hypnose gebeichtet, aber während der regelmäßigen Sitzungen, die wir als Voraussetzung für die Teilnahme an der Expedition akzeptiert hatten, trug ich freiwillig wenig bei.
»Erzähl mir was über deine Eltern. Wie sind sie?« Das war einer ihrer klassischen Schachzüge, ein Gespräch zu eröffnen.
»Normal«, antwortete ich und versuchte mich an einem Lächeln, während ich distanziert, unpraktisch, unwichtig, launisch, zu nichts zu gebrauchen dachte.
»Deine Mutter ist eine Alkoholikerin, stimmt’s? Und dein Vater eine Art … Hochstapler?«
Über diesen Affront, der nichts mit Erkenntnis zu tun hatte, verlor ich fast die Beherrschung. Ich reagierte beinahe herausfordernd: »Meine Mutter ist eine Künstlerin und mein Vater Unternehmer.«
»Was ist deine früheste Erinnerung?«
»Frühstück.« Ein ausgestopfter Hundewelpe, den ich immer noch habe. Ein Vergrößerungsglas über das Erdloch einer Ameisenjungfer zu halten. Einen Jungen zu küssen und ihn dazu zu bringen, sich für mich auszuziehen, einfach weil ich es nicht besser wusste. In einen Brunnen zu fallen und mir den Kopf aufzuschlagen; das Ergebnis waren fünf Stiche in der Notfallambulanz und eine bleibende Angst vor dem Ertrinken. Wieder in der Notfallambulanz, als Mutti zu viel getrunken hatte; das folgende Jahr eine große Erleichterung, weil sie fast trocken blieb .
Von all meinen Antworten ärgerte sie »Frühstück« am meisten. Ich merkte es an ihrer steifen Haltung, der Kälte im Blick und wie sie sich anstrengen musste, die Mundwinkel nicht allzu weit nach unten zu ziehen. Aber sie beherrschte sich.
»Hattest du eine glückliche Kindheit?«
»Normal«, antwortete ich. Meine Mutter einmal so betrunken, dass sie mir Orangensaft statt Milch ins Müsli schüttete. Das permanente, nervöse Geplapper meines Vaters, das sich nach ständigen Schuldgefühlen anhörte. Im Urlaub billige Motels am Strand, wo Mama am Ende anfing zu weinen, weil wir wieder zurück in unser normales Knapp-bei-Kasse-Leben mussten, obwohl wir es ja nie verlassen hatten. Das Gefühl drohenden Unheils, das sich im Auto ausbreitete .
»Wie nah waren dir deine weiteren Verwandten?«
»Nah genug.« Geburtstagskarten für eine Fünfjährige, die ich auch noch mit Zwanzig bekam. Ein freundlicher Großvater mit langen gelben Fingernägeln und der Stimme eines Bärs. Eine Großmutter, die mir Vorträge über den Wert von Religion und Sparsamkeit hielt. Wie hießen sie doch gleich?
»Wie fühlst du dich dabei, Teil eines Teams zu sein?«
»Ganz in Ordnung. Ich habe in Teams schon öfter meine Rolle gespielt.« Ja, dachte ich dabei, aber immer die Nebenrolle .
»Bei einer ganzen Reihe deiner Jobs im Außendienst ist dein Vertrag nicht verlängert worden. Möchtest du mir sagen, warum?«
Sie wusste, warum, also zuckte ich nur wieder mit den Schultern und sagte nichts.
»Nimmst du an dieser Expedition nur wegen deines Ehemanns teil?«
»Wie nah standet ihr beide euch?«
»Habt ihr euch oft gestritten? Warum habt ihr euch gestritten?«
»Warum hast du nicht sofort die Behörden angerufen, als er bei dir zu Hause auftauchte?«
Es war völlig klar, dass diese Sitzungen die Psychologin in professioneller Hinsicht frustrierten, in Anbetracht all dessen, was sie ihr bei der Ausbildung für diesen Job eingebläut hatte. Alles war darauf angelegt, den Klienten so viele persönliche Informationen wie möglich zu entlocken, um so Vertrauen herzustellen und dann in tiefer gelegene Schichten vorzudringen. »Du bist sehr verschlossen«, sagte sie einmal zu mir, aber das war nicht abschätzig gemeint. Und erst am zweiten Tag unseres Marsches von der Grenze zu unserem Basislager fiel mir auf, dass vielleicht genau die Eigenschaften, die sie als Psychologin missbilligte, mich für die Expedition als geeignet erschienen ließen.
Jetzt lag sie im Schatten des Walls halb aufgerichtet auf einem Haufen Sand, wie ein gebrochener Mast, ein Bein ausgestreckt, das andere unter sich begraben. Sie war allein. Ihr Zustand und wie sie da lag ließ keinen Zweifel, dass sie von der Spitze des Leuchtturms gesprungen oder gestoßen worden war. Vielleicht war sie auf den Wall geprallt und hatte sich dabei verletzt. Während ich, methodisch wie ich nun einmal war, stundenlang in den Tagebüchern suchte, hatte sie die ganze Zeit lang hier gelegen. Mir war unverständlich, warum sie überhaupt noch lebte.
Hemd und Jacke waren blutdurchtränkt, aber sie atmete und ihre Augen waren offen und hinaus auf aufs Meer gerichtet, als ich neben ihr niederkniete. Der linke Arm war ausgestreckt, und in der Hand hielt sie eine Waffe, die ich ihr sanft entwand und zur Seite legte, nur für den Fall.
Die Psychologin schien meine Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Ich berührte behutsam ihre breite Schulter, und dann schrie sie los, während sie gleichzeitig hochfuhr und wieder in sich zusammenfiel und ich zurückschreckte.
»Auslöschung!«, schrie sie mir ins Gesicht. » Auslöschung! Auslöschung! « Mit jeder Wiederholung schien mir das Wort bedeutungsloser, wie der Schrei eines Vogels mit einem gebrochenen Flügel.
»Ich bin’s bloß, die Biologin«, sagte ich mit ruhiger Stimme, obwohl sie mich aus der Fassung gebracht hatte.
» Bloß du «, sagte sie mit keuchenden Glucksen, als hätte ich einen Witz gemacht. »Bloß du.«
Während ich sie wieder aufrichtete, gab sie ein knirschendes Stöhnen von sich, und mir wurde klar, dass sie sich wahrscheinlich fast alle Rippen gebrochen hatte. Die linke Schulter und der obere Arm fühlten sich schwammig unter der Jacke an. Unter der Hand, die sie instinktiv auf den Bereich um ihren Magen gepresst hielt, sickerte dunkelrotes Blut hervor. Ich konnte riechen, dass ihre Blase ausgelaufen war. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
»Du bist immer noch hier«, sagte sie, wobei sie überrascht klang. »Aber ich habe dich doch getötet, oder?« Die Stimme von jemandem, der in einen Traum gleitet, oder aus einem Traum erwacht.
»Nicht mal ansatzweise.«
Wieder ein raues Keuchen, dann wurden ihre Augen klarer. »Hast du Wasser mitgebracht? Ich habe Durst.«
»Habe ich.« Ich presst ihr die Feldflasche an den Mund, sodass sie ein paar Schlucke trinken konnte. Auf ihrem Kinn glitzerten Bluttropfen.
»Wo ist die Vermesserin?«, fragte die Psychologin keuchend.
»Im Basislager.«
»Wollte nicht mit dir kommen?«
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