… und wieder kommt die Zerstörung von See, mitsamt den merkwürdigen Lichtern und den Meereslebewesen, die sich bei Flut gegen unseren Wall werfen. In der Nacht, jetzt, versuchen ihre Vorposten, durch die Lücken in unserer Verteidigungsanlage zu kriechen. Noch halten wir stand, aber unsere Munition wird knapp. Ein paar von uns wollen den Leuchtturm aufgeben, versuchen, die Insel oder das Landesinnere zu erreichen, aber der Anführer sagt, er hat seine Befehle. Die Stimmung ist gedrückt. Längst nicht alles, was uns passiert, lässt sich rational erklären.
Kurz darauf brach der Bericht ab. Er hatte etwas ausgesprochen Surreales an sich, als sei er eine romanhafte Version tatsächlicher Ereignisse. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Area X wohl vor so langer Zeit ausgesehen haben mochte. Ich schaffte es nicht.
Der Leuchtturm schien die Expeditionsteilnehmer angezogen zu haben wie die Schiffe, denen er einst Sicherheit in den engen Passagen und Riffen vor der Küste bringen sollte. Ich kann nur noch einmal meine früheren Überlegungen unterstreichen, dass die meisten den Leuchtturm als ein Symbol sahen, eine Vergewisserung der alten Ordnung, und da er alles überragend am Horizont aufragte, schien er ein sicheres Refugium zu sein. Dass dieses Vertrauen enttäuscht worden war, wurde in allem deutlich, was ich unten vorgefunden hatte. Und obwohl einige von ihnen das gewusst haben müssen, waren sie trotzdem gekommen. Aus purer Hoffnung. Aus purem Vertrauen. Aus purer Dummheit.
Aber welche Macht auch immer sich aufgemacht hatte, Area X zu bewohnen, mir war inzwischen klar geworden, dass man einen Guerillakrieg führen musste, wenn man sie überhaupt bekämpfen wollte. Man musste mit der Landschaft verschmelzen, oder wie der Autor der Distel-Geschichte so lange wie möglich so tun, als wäre sie gar nicht da. Ihre Existenz anzuerkennen, ihr einen Namen zu geben, konnte schon heißen, ihr Tür und Tor zu öffnen. Vermutlich habe ich aus dem gleichen Grund von den Veränderungen in mir weiterhin als »Leuchten« gesprochen, denn diesen Zustand allzu genau zu untersuchen – ihn zu quantifizieren oder empirisch damit umzugehen, wenn ich kaum Kontrolle darüber habe –, würde ihn allzu real werden lassen.
Irgendwann verfiel ich in Panik angesichts der Masse dessen, was sich da weiterhin vor mir auftürmte, und in dieser Panik justierte ich noch einmal mein Hauptaugenmerk: Ich würde jetzt nur noch nach Formulierungen suchen, die mit den Worten an der Wand des Turms identisch oder ihnen ähnlich waren. Ich ging den Papierberg jetzt direkter an, kämpfte mich in den mittleren Teil vor und das helle Rechteck über meinem Kopf gab mir die Gewissheit, dass es in meinem Leben auch noch etwas anderes gab. Ich wühlte wie die Silberfische und die Ratten, ich schob meine Arme tief in das Chaos und zog mit den Händen hervor, was immer ich zu fassen kriegte. Manchmal verlor ich das Gleichgewicht und wurde unter dem Papier begraben, kämpfte mit ihm, roch und schmeckte die Verwesung. Noch während ich so fieberhaft wie sinnlos herumwühlte, war mir klar, dass jeder, der von oben zusehen würde, mich für verrückt erklärt hätte.
Aber ich fand, wonach ich suchte, in mehr Tagebüchern als erwartet, und meistens fing es mit diesen Worten an: Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen … Häufig einfach an den Rand gekritzelt und auch sonst ohne Zusammenhang mit dem vorherigen und folgenden Text. Ein Eintrag dokumentierte den Satz an der Wand des Leuchtturms, den »wir schnell abwuschen«, ohne das weiter zu erklären. Ein andermal fand ich einen Hinweis in krakeliger Handschrift auf »einen Eintrag in einem Logbuch, der so klang, als würde er aus dem Alten Testament stammen, aber in keinem Psalm enthalten ist, an den ich mich erinnern kann.« Wer würde da nicht sofort an den Crawler denken? … mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln … Aber das alles brachte mich dem Verständnis des Warum oder Wer nicht näher. Wir alle tappten im Dunkeln, krabbelten auf einem Haufen Tagebücher herum, und wenn ich jemals das Gewicht meiner Vorgänger auf mir lasten gespürt habe, dann war es dann und dort, so verloren in allem.
Irgendwann merkte ich, dass ich völlig überwältigt war und einfach nicht mehr weitermachen konnte, nicht einmal mehr ganz mechanisch. Es waren schlicht zu viele Informationen, in zu anekdotischer Form aufbereitet. Ich hätte mich jahrelang durch diese Seiten lesen können, ohne auf die richtigen Geheimnisse zu stoßen und dabei endlos darüber nachgrübeln, seit wann es diesen Ort schon gab, wer zuerst sein Tagebuch hiergelassen hatte, warum andere dem gefolgt waren, bis das so unausweichlich wurde wie ein sich tief eingeprägtes Ritual. Aber aus welchem Antrieb, welchem allen eigenen Fatalismus? Alles was ich wirklich zu wissen glaube ist, dass Tagebücher von bestimmten Expeditionen und einiger Expeditionsteilnehmer fehlten, dass die Berichte lückenhaft waren.
Außerdem war mir klar, dass ich zum Basislager zurückkehren musste, bevor es dunkel wurde, oder mir nur der Leuchtturm blieb. Die Vorstellung, im Dunklen zu gehen, behagte mir gar nicht, und wenn ich nicht zurückkehrte, hatte ich keine Garantie, dass die Vermesserin mich nicht fallenlassen und versuchen würde, über die Grenze zurückzukehren.
Ich beschloss, für heute einen letzten Versuch zu wagen. Unter großen Schwierigkeiten kletterte ich auf den Gipfel des Papierhaufens und versuchte dabei, die Tagebücher nicht nach unten zu treten. Ich hatte eine Art aufgewühltes Monster unter meinen Füßen, das keine Ruhe geben wollte, widerwillig wie der Sand der Dünen draußen, und jeden meiner Tritte mit einer Gegenreaktion beantwortete. Aber irgendwie schaffte ich es.
Wie ich mir gedacht hatte waren die Tagebücher ganz oben neueren Datums, und ich fand die der Expedition meines Mannes sofort. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen stöberte ich weiter im Angesicht des Unausweichlichen, das da kommen musste, und es kam auch. Ich fand es leichter, als ich erwartet hatte, es klebte durch getrocknetes Blut oder irgendeine andere Substanz fest Rücken an Rücken mit einem anderen Heft: das Tagebuch meines Ehemanns, in seiner selbstsicheren, kühnen Handschrift, die ich von Notizen am Kühlschrank oder Einkaufslisten kannte. Der Geistervogel hatte seinen Geist gefunden, auf einem unerklärlichen Stoß anderer Geister. Aber statt dass ich mich darauf freute, diesen Bericht zu lesen, hatte ich das Gefühl, ein privates Tagebuch zu stehlen, das durch seinen Tod verschlossen worden war. Ein dummes Gefühl, ich weiß. Er hatte sich immer gewünscht, dass ich mich ihm öffnen würde, und im Gegenzug war er immer offen zu mir gewesen. Jetzt lag er so offen wie ein Buch vor mir, und das möglicherweise für alle Zeit, eine Wahrheit, die ich kaum ertragen konnte.
Obwohl ich mich nicht dazu durchringen konnte, es sofort zu lesen, widerstand ich dem Drang, das Tagebuch meines Ehemanns wieder zurück auf den Haufen zu werfen, sondern steckte es mit eine paar anderen, die ich ins Basislager mitnehmen wollte, ein. Ich nahm auch zwei der Pistolen der Psychologin an mich, bevor ich aus diesem elenden Loch herauskletterte. Ihre anderen Vorräte ließ ich erst einmal dort. Ein geheimes Lager im Leuchtturm konnte noch von Nutzen sein.
Als ich von unten wieder auftauchte, war es später, als ich angenommen hatte. Der Himmel war bereits in tiefes Bernsteingelb getaucht, ein Zeichen, dass es schon später Nachmittag war. Das Meer erstrahlte im Licht, aber die reine Schönheit konnte mich nicht mehr täuschen. Dieser Ort hatte im Laufe der Zeit viele Menschenleben gehen sehen, Menschen, die freiwillig ins Exil oder Schlimmeres gegangen waren. Über allem lag der grausige Geist ungezählter verzweifelter Kämpfe. Warum wurden wir immer noch hierher geschickt? Und warum gingen wir immer noch? Eine Zeile aus einem Song fiel mir wieder ein: All this useless knowledge .
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