Als ich einmal mit meiner Interregionale-Dauerkarte einen Intercity genommen hatte, fiel mir plötzlich ein, dass ich die Zuschlagkarte für 4,23 Euro nicht abgestempelt hatte. Sogleich beunruhigt, sprang ich auf dem kleinen Bahnhof von Peschiera aus dem Zug, konnte jedoch auf dem Bahnsteig keinen Entwerter entdecken und rannte, da ich sah, dass der Zugchef bereits die Pfeife an die Lippen hob, zu ihm und bat ihn, mein Ticket zu entwerten. Er weigerte sich. Er sagte, er sehe an meinem Ticket, dass ich bereits im Zug gewesen war und daher ein Bußgeld zu zahlen hatte. Ich wies darauf hin, dass ich, da ich einmal ausgestiegen war, ebenso gut draußen bleiben und so das Bußgeld umgehen konnte. Er konnte mich wohl kaum mit einem Bußgeld belegen, wenn er mich nicht im Zug erwischte, und ich hatte doch eindeutig nicht vorgehabt zu betrügen, denn ich war ja extra wieder ausgestiegen, um mein Ticket abzustempeln.
Wir stritten uns. Es ist bemerkenswert, wie oft es in Italien zu solchen unsicheren Situationen kommt: Wie ist das Gesetz anzuwenden? Ganze Persönlichkeiten bilden sich um derartige Komplikationen herum. Der furbo versucht natürlich, alle Regeln zu umgehen. Aber es gibt auch den gegensätzlichen Charakter, den pignolo , der sich immer peinlich genau an alle Vorschriften hält, selbst oder besonders dann, wenn sie absolut unangemessen erscheinen. Der pignolo hält alle anderen für furbi , der furbo hält alle anderen für pignoli .
»Ich werde mich weigern zu zahlen, wenn Sie mir ein Bußgeld aufbrummen«, erklärte ich dem Schaffner.
»Dann zeige ich Sie bei der Bordpolizei an«, gab er zurück. Es fahren üblicherweise in jedem Zug zwei bis an die Zähne bewaffnete carabinieri oder poliziotti mit.
»Die Bordpolizei ist an Bord«, sagte ich zu ihm. »Ich nicht.«
Noch einmal weigerte er sich, mein Ticket zu entwerten.
Der Intercity von Venedig nach Turin wurde derweil aufgehalten. Mit etwa tausend Passagieren an Bord.
Kampflustig stieg ich trotzdem wieder ein. »Ich handle eindeutig in gutem Glauben«, erklärte ich.
»In den Regularien steht nichts von gutem Glauben«, sagte er. Das stimmt. Italienische Regeln und Regularien ziehen niemals in Betracht, in welchem Geist jemand gehandelt hat. Er würde mir ein Bußgeld aufbrummen und damit basta.
Aber obwohl ich die ganze Fahrt nach Mailand im selben Waggon sitzen blieb, kam er nicht zu mir, um das Bußgeld zu kassieren. Vielleicht ging es nur darum, mich nervös zu machen, mich die Anwesenheit einer Autoritätsperson spüren zu lassen. Das hat die Steuerbehörde auch schon mit mir gemacht. Sie drohen und tun dann gar nichts. Da der Schaffner nicht kam, um das Datum auf mein Ticket zu schreiben, konnte ich den Zuschlag ein zweites Mal verwenden. Was ich dann auch tat!
Eine ähnliche Situation ergab sich einmal auf einer Fahrt nach Görz an der italienisch-slowenischen Grenze. Der Schaffner betrachtete meine Fahrkarte sehr eingehend und teilte mir dann mit, dass dieses »Dokument« mich dazu verpflichtete, über Pordenone statt über Udine zu fahren. Ich hatte den Umweg genommen, warf er mir vor. Ich hatte deshalb einen Preisausgleich von ungefähr dreißig Kilometern zu zahlen, plus ein Bußgeld.
Der Mann am Fahrkartenschalter hatte mir nichts davon gesagt, protestierte ich. Ich hatte einfach um eine Fahrkarte nach Görz gebeten, den Fahrplan studiert und den zeitlich günstigsten Zug genommen. Man konnte mir wohl kaum vorwerfen, ich wolle mir einen Vorteil verschaffen, indem ich dreißig Extrakilometer zurücklegte.
»Auf Ihrem Ticket steht über Pordenone«, sagte er. »Lesen Sie Ihr documento di viaggio nicht?«
Ich fand das faszinierend. Was für ein Mensch muss man sein, um zu glauben, dass sich die Leute eine Bus- oder Bahnfahrkarte kaufen und sich dann hinsetzen, um sie zu lesen ? Oder sie als documento di viaggio betrachten?
Der Zug hielt in einem Bahnhof. »Ich bin gleich wieder da und kümmere mich darum«, sagte er ernst; er würde die genauen Mehrkosten der Fahrt und dann die genaue Höhe des Bußgeldes entsprechend dieser Mehrkosten ausrechnen. In Italien wird alles auf der Basis der Kilometerkosten berechnet, unabhängig davon, welche Strecken stärker befahren werden oder höhere Wartungskosten verursachen. Der Mann eilte in seinem grünen Blazer mit den glänzenden Knöpfen davon und … ließ sich nie wieder blicken. Kann sein, dass ein italienischer Beamter einen, wenn man beharrlich ist, am Ende umso eher davonkommen lässt, je hartnäckiger er auf einer korrekten Fassade besteht. Ich vermute, das ist der Grund, warum italienische Fußballspieler die Entscheidungen des Schiedsrichters unweigerlich anfechten. Man kann einfach nie wissen. Und selbst wenn der Mann diese Entscheidung nicht zurücknimmt, wird er sich womöglich beim nächsten Foul gründlicher überlegen, ob er es pfeift oder nicht.
Wie dem auch sei, auf der Dauerkarte, die ich um 6.35 Uhr morgens erworben habe, steht eine Warnung: da convalidare (ist zu entwerten). Aber da es sich um eine Jahreskarte handelt, ist es natürlich nicht nötig, sie zu entwerten. Es wäre sogar ein Fehler. Wie soll ich die Karte auch jedes Mal, wenn ich im Laufe des kommenden Jahres in einen Zug steige, abstempeln? Italien ist kein Land für Anfänger.
EINER DER GROSSEN VORTEILE des 6.40-Uhr-Zuges besteht darin, dass er in Verona eingesetzt wird. Man braucht nicht auf dem Bahnsteig oder im Warteraum herumzusitzen. Selbst wenn man fünfzehn Minuten zu früh da ist, kann man direkt einsteigen und im Zug warten. Ich gehe zum letzten Wagen. Der Zugverströmt einen ganz besonderen Geruch, der mich immer tief beeindruckt, wenn ich nach der langen Sommerpause wieder einsteige, um ein weiteres Unterrichtsjahr zu beginnen. Es ist eine Mischung aus Urin, Desinfektionsmittel und abgenutzten synthetischen Sitzpolstern, in denen noch der Zigarettenqualm von Jahrzehnten hängt. Inzwischen darf in den Zügen nicht mehr geraucht werden, aber der Geruch ist noch da. Das verschwommene Neonlicht greift die Augen an, ohne ein Buch ausreichend zu beleuchten. Hier und da ist ein Platz besetzt, von einem Studenten, der mit seiner frisch gewaschenen Wäsche ins College zurückkehrt; einem Mann im Overall, der sich dauernd räuspert; einem erschöpft aussehenden, drallen schwarzen Mädchen, das eindeutig nach einer langen Nacht auf dem Weg nach Hause ist. Vor dem Bahnhof von Verona herrscht lebhafter Prostitutionsbetrieb, hauptsächlich Immigrantinnen aus Afrika und den slawischen Ländern, die mit einem Fuß in der Sklaverei leben, fürchte ich. Sie fahren viel Zug. Ich weiß nicht, warum. Köpfe wackeln und nicken unvermittelt. Das Mädchen, die einzige Nicht-Weiße im ganzen Wagen, trägt rote Lackstiefel. Jemand schnarcht. Es ist ein Großraumwagen, ohne Abteile, und ich suche mir einen Platz so weit wie möglich von den anderen entfernt. Um 6.42 Uhr oder 6.43 Uhr wird durch den harten Sitz eine leichte Spannung in Lenden und Oberschenkeln spürbar. Kein Zug überwindet das Trägheitsmoment so sanft, so zögerlich und müde wie der 6.40-Uhr-Interregionale nach Genova Piazza Principe über Milano Centrale.
Dann stürmt ein Spätankömmling herein, ein junges Mädchen, und setzt sich direkt neben mich . Ihr Discman leiert, sie trägt ein aufdringliches Parfüm, hat einen Glitzerstein im Bauchnabel und in der Hand eine laut raschelnde Papiertüte mit einem klebrigen Croissant darin. Warum passiert das so oft? Es gibt Menschen, die für sich sein möchten, ihr Terrain abstecken und dort in Ruhe gelassen werden wollen, und es gibt Menschen, die ausgesprochen gerne in dieses Terrain vordringen, sich gerne dicht neben jemanden setzen. Von Letzteren scheint es in Italien überproportional viele zu geben. Man sitzt in einem Wagen, einem ganzen Zug mit lauter leeren Abteilen, in einem leeren Abteil, und jemand stürmt herein und setzt sich genau auf den Platz neben einem.
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